Wer spektakulär Neues vom Papstbuch über die Kindheitsevangelien erwartet hat, der wird enttäuscht sein von den rund 130 Seiten Text. Den christlichen Glauben aus den Angeln zu heben, darin sieht Joseph Ratzinger nicht sein Aufgabe. Vielmehr geht es ihm darum, die biblischen Erzählungen, die heute an vielen Stellen bisweilen von Wissenschaftlern wie „einfachen“ Gläubigen in Zweifel gezogen werden, neu zu erschließen und ihren Wahrheitsgehalt darzulegen. Das macht er in einer Mischung aus wissenschaftlicher, sprich historisch-kritischer Herangehensweise und gleichzeitiger religiöser Deutung der Ereignisse. Was er darunter versteht, schreibt er in seinem zusammenfassenden Urteil über die Kindheitsgeschichte im Matthäusevangelium. Diese sei „nicht eine in Geschichte gekleidete Meditation, sondern umgekehrt: Matthäus erzählt uns wirkliche Geschichte, die theologisch bedacht und gedeutet ist, und hilft uns so, das Geheimnis Jesu tiefer zu verstehen“.
Benedikt XVI. zweifelt nicht an der Jungfrauengeburt. Es gebe bisher keine andere plausible Erklärung, als dass sie „wahr ist“. Bei der Suche nach Erklärungen für die Jungfrauengeburt widerspricht Ratzinger einer These des Kirchenlehrers Augustinus. Das ist ungewöhnlich, denn Benedikt XVI. ist als großer Augustinusfreund bekannt. An dieser Stelle folgt er ihm nicht. Maria habe nicht, wie Augustinus sagte, ein Jungfräulichkeitsgelübde abgelegt und sich verlobt, um mit Josef einen „Schützer ihrer Jungfräulichkeit“ zu haben. Vielmehr kommt Ratzinger zu dem Ergebnis, – in Einklang mit dem protestantischen Theologen Karl Barth – dass es in der Geschichte Jesu zwei Punkte gebe, an denen Gottes Wirken unmittelbar in die materielle Welt eingreife: die Geburt aus der Jungfrau und die Auferstehung aus dem Grab. „Insofern sind diese beiden Punkte Prüfsteine des Glaubens. Wenn Gott nicht auch macht über die Materie hat, dann ist er eben nicht Gott.“ Dieses Fazit überrascht etwas, da Ratzinger wenige Seiten vorher betont, dass Gott bei der Geburt Jesu auf die Freiheit des Menschen angewiesen ist: „Er [Gott] kann den frei geschaffenen Menschen nicht ohne ein freies Ja zu seinem Willen erlösen. Die Freiheit erschaffend, hat er sich in gewisser Weise vom Menschen abhängig gemacht.“
Wie schon in den anderen beiden Bänden der Jesustrilogie zeigt Ratzinger die enge Verbindung zwischen Christentum und Judentum auf. Jesus und seine Familie seien fromme Juden gewesen, die das Gesetz beachteten. Ratzinger weist die Vorstellung von Jesus als einem Revolutionär entschieden zurück. „Die Freiheit Jesu ist nicht die Freiheit des Liberalen. Es ist die Freiheit des Sohnes und so die Freiheit des wahrhaft Frommen.“ Freiheit und Gehorsam gegenüber Gott gehörten untrennbar zusammen. Umgekehrt müssten Politik und Glauben getrennt werden. „Wo sich der Kaiser vergöttlicht und göttliche Qualitäten in Anspruch nimmt, überschreitet die Politik ihre Grenzen und verspricht, was sie nicht leisten kann.“ An wenigen Stellen blitzen in dem sehr theologisch und spirituell gehaltenen Buch Bezüge wie diese zur Aktualität auf. Etwa auch dann, wenn Ratzinger bei der Auslegung der Erzählung von den drei Magiern von der „Ambivalenz des Religiösen“ spricht und davor warnt, dass das Religiöse dämonisch und zerstörerisch sein kann, wenn es sich gegen Gott stellt. Eine kleine Spitze findet sich gegen die theologische Wissenschaft, die sich nicht im akademischen Disput erschöpfen dürfe.
Ein Gedanke zieht sich durch das Werk durch, der einen starken Gegenwartsbezug hat. Gleich an mehreren Stellen macht Benedikt XVI. deutlich, dass „Gott stört“. Er handelt anders, als der Mensch es erwartet und hat damit etwas Provokatives. „Wir alle wissen, wie sehr heute Christus Zeichen eines Widerspruchs ist, der im Letzten Gott selbst gilt. Gott selbst wird immer wieder als die Grenze unserer Freiheit gesehen, die beseitigt werden müsse, damit der Mensch ganz er selber sein könne. Gott steht mit seiner Wahrheit der vielfältigen Lüge des Menschen, seiner Eigensucht und seinem Hochmut entgegen.“ Unausgesprochen stecken in diesen Ausführungen Fragen, die seit langer Zeit gerade auch im deutschen Sprachraum heftig diskutiert werden: Was bedeutet das für das Auftreten der Christen in Politik und Gesellschaft? Wie eckig und kantig muss Kirche heute sein, wenn der Stifter mit seinem Verhalten und seiner Botschaft aneckte? „Erlösung ist nicht Wellness,“ lautet das Fazit des Papstes. Klingt da auch etwas von „Entweltlichung“ durch?
Das Projekt „Jesusbuch“ war ein Herzensanliegen von Joseph Ratzinger. Nun ist es vollbracht. Anfang nächsten Jahres soll eine Enzyklika über den Glauben veröffentlicht werden. Dann liegt auch bei den Enzykliken eine große Trilogie über die drei Göttlichen Tugenden vor: Glaube (2013), Hoffnung (Spe salvi, 2007) und Liebe (Deus caritas est, 2005). Man darf gespannt sein, was der Papst sich jetzt als nächstes großes Projekt vornimmt.
Literaturhinweis: Joseph Ratzinger / Benedikt XVI.: Jesus von Nazareth. Prolog. Die Kindheitsgeschichten. Herder-Verlag Freiburg 2012. EUR 20,–.