Gut 20 DinA4-Seiten füllt das Interview, das Papst Franziskus den Jesuitenzeitschriften gegeben hat. Für einen Papst, der nicht gerne Interviews gibt, durchaus sensationell. Auch der Inhalt ist bemerkenswert. Zwar ist eine ganze Reihe von Positionen bereits bekannt; doch lernt man auch viel Neues über den Papst persönlich und seine Vorstellungen von der Kirche in der Gegenwart. Fragen der Politik, Ökumene oder interreligiöser Dialog spielen kaum eine Rolle in dem Interview. Drei Mal traf sich der Chefredakteur der italienischen Jesuitenzeitung La Civiltà Cattolica, Antonio Spadaro, am 19., 23. und 29. August für jeweils mehrere Stunden mit Franziskus im vatikanischen Gästehaus Santa Marta.
Die Pressekonferenz auf dem Rückweg von Rio scheint Papst Franziskus Spaß gemacht zu haben. Jetzt gab er ein großes Interview für Jesuitenzeitschriften. (dpa)
Papst persönlich
Das Gespräch beginnt sehr persönlich. Auf die Frage, wer ist Jorge Mario Bergoglio antwortet der Papst: „Ich bin ein Sünder. Das ist die richtigste Definition“. Um dann hinzuzufügen, dass er ein wenig gewieft sei, sich verstehe zu bewegen und auch ein wenig arglos sei. Dass er sich zu bewegen versteht, zeigen die ersten Monate im Pontifikat, in denen er bereits klare Akzente gesetzt hat und dem Papstamt einen ganz eigenen Stempel aufgedrückt hat. Ausführlich spricht Franziskus über seine Motivation, Jesuit zu werden. Drei Dinge hätten ihn beim Orden des hl. Ignatius berührt: der Sendungscharakter, die Gemeinschaft und die Disziplin. Wenn man Franziskus über die Jesuiten, ihre Spiritualität und ihr Denken reden hört und dann die letzten sechs Monate im Amt als Papst daneben hält, wird deutlich, wie das Jesuitische das Handeln des amtierenden Papstes prägt. „Der Jesuit muss immer ein Mensch von unabgeschlossenem, von offenem Denken sein.“
Im hinteren Teil des Interviews geht es noch einmal um persönliche, private Dinge des Papstes: Er liebt Dostojewski und Hölderlin; hat schon dreimal Manzonis „Die Brautleute“ (Promessi Sposi) gelesen und will sie in Kürze noch einmal lesen. Caravaggio und Chagall sind seine Lieblingsmaler. Mozart (v.a. das ‚Et incarnatus est“ aus der Messe in C-Moll) und Beethoven hört er gerne, auch die Passionen von Bach und schließlich Wagner. Fellini, Magnani und Fabrizi sind seine Favoriten beim Film – sprich der italienische Film liegt ihm am Herzen – hier schlägt seine italienische Herkunft, seine Großeltern wanderten aus der Nähe von Turin nach Argentinien aus, durch – und natürlich der dänische Streifen ‚Babettes Fest‘.
Entscheidungsfindung und Strukturen
Hier schlägt Franziskus sehr selbstkritische Töne an, für einen Papst meines Erachtens ungewöhnlich: Er habe sich als Jesuitenoberer in Argentinien nicht immer korrekt verhalten, habe notwendige Konsultationen nicht durchgeführt. „Mein Führungsstil als Jesuit hatte anfangs viele Mängel. […] Meine autoritäre Art, Entscheidungen zu treffen, hat mir ernste Probleme und die Beschuldigung eingebracht, ultrakonservativ zu sein. […] Ich bin nie einer von den ‚Rechten‘ gewesen. Es war meine autoritäre Art, Entscheidungen zu treffen, die Probleme verursachte.“ Doch er habe gelernt, so Franziskus. Konsultationen seien sehr wichtig. Konsistorien, also die Treffen von Kardinälen, sowie Synoden sind aus seiner Sicht wichtige Orte für solche Konsultationsprozesse. „Man sollte sie in der Form allerdings weniger starr gestalten. Ich wünsche mir wirklich keine formellen Konsultationen.“
Franziskus hält nicht viel von kurzfristigen Reformen und Veränderungen. Man brauche immer Zeit, „um die Grundlage für eine echte, wirksame Veränderung zu legen. […] Ich misstraue immer der ersten Entscheidung, das heißt, der ersten Sache, die zu tun mir in den Sinn kommt. Sie ist im Allgemeinen falsch. Ich muss warten, innerlich abwägen, mir die nötige Zeit nehmen.“ Alle, die eine schnelle Kurienreform erwarten, werden an dieser Stelle eines besseren belehrt.
Franziskus ist überzeugt, dass Synodalität auf verschiedenen Ebenen gelebt werden muss. Volk, Bischöfe und Papst müssten gemeinsam gehen. Von den „orthodoxen Brüdern“ könne man „noch mehr den Sinn der bischöflichen Kollegialität und die Tradition der Synodalität lernen“. Er möchte auch gerne die Reflexion mit den anderen christlichen Kirchen über den Primat des Petrus fortführen. An dieser Stelle, wenn es über Synodalität und Primat geht, kommt eine ökumenische Komponente in das Gespräch.
Was die römische Kurie anbetrifft betont Franziskus den Dienstcharakter der Behörden für den Papst, die Bischöfe und Ortskirchen. „In Einzelfällen, wenn man sie nicht richtig versteht, laufen sie Gefahr, Zensurstellen zu werden. […] Die römischen Dikasterien sind Vermittler, sie sind nicht autonom.“
Kirche
In Anlehnung an die Konzilskonstitution „Lumen Gentium“ spricht er von der Kirche als „heiliges Volk Gottes“, das auf dem Weg durch die Geschichte ist. „Diese Kirche, mit der wir denken und fühlen sollen, ist das Haus aller – keine kleine Kapelle, die nur ein Grüppchen ausgewählter Personen aufnehmen kann.“ Er sieht die Kirche aktuell wie ein „Feldlazarett nach einer Schlacht“. Das, was die Kirche heute brauche, ist die Fähigkeit, „die Wunden zu heilen und die Herzen der Menschen zu wärmen.“ Die Diener der Kirche müssten dabei vor allem Diener barmherzig sein. „Das Volk Gottes will Hirten und nicht Funktionäre oder Staatskleriker.“ Dabei warnt Franziskus einmal mehr zugleich vor Rigorismus und Laxheit in der Pastoral.
Homosexualität
Papst Franziskus wiederholt, was er schon bei der Pressekonferenz auf dem Rückweg vom Weltjugendtag aus Rio de Janeiro gesagt hat: Die Religion dürfe die eigene Überzeugung zum Ausdruck bringen, so Franziskus; aber: „Es darf keine spirituelle Einmischung in das persönliche Leben geben.“ Zugleich gibt der Papst zu bedenken, dass Kirche sich nicht nur mit der Frage um Abtreibung, homosexuellen Ehen und Verhütungsmethoden befassen könne. „Das geht nicht.“ Zumal man bei diesen Themen immer den jeweiligen Kontext beachten müsse. „Die Lehren der Kirche – dogmatische wie moralische – sind nicht alle gleichwertig.“ Eine missionarische Seelsorge sei nicht davon besessen, „ohne Unterschiede eine Menge von Lehren aufzudrängen. […] Wir müssen also ein neues Gleichgewicht finden, sonst fällt auch das moralische Gebäude der Kirche wir ein Kartenhaus zusammen, droht seine Frische und den Geschmack des Evangeliums zu verlieren.“ Übrigens erinnerte mich diese Passage etwas an das TV-Interview von Papst Benedikt XVI. für ARD und ZDF vor dem Bayernbesuch im Spätsommer 2006. Damals hatte er auf die Frage, warum er beim Weltfamilientreffen kurz zuvor in Valencia nicht über Homo-Ehe, Abtreibung und Verhütung gesprochen habe, geantwortet, dass es zunächst darum gehe, das positive des christlichen Glaubens zu verkünden. Das Christentum sei nicht eine Ansammlung von Verboten, sondern eine positive Option. Das sei ihm wichtig.
Frauen
Die Frau sei für die Kirche unabdingbar, so der Papst. „Ich fürchte mich aber vor einer ‚Männlichkeit im Rock‘, denn die Frauen haben eine andere Struktur als der Mann.“ Deshalb wiederholt er seine Forderung nach einer „gründlichen Theologie der Frau“. Die Herausforderung heute sei, darüber zu reflektieren „über den spezifischen Platz der Frau gerade auch dort, wo in den verschiedenen Bereichen der Kirche Autorität ausgeübt wird“.
II. Vatikanisches Konzil
Sehr positiv spricht Franziskus über das II. Vatikanische Konzil, das „eine neue Lektüre des Evangeliums im Licht der zeitgenössischen Kultur“ gewesen sei. Die Liturgiereform etwa bezeichnet er als „Dienst am Volk“. Die Entscheidung von Papst Benedikt XVI., den alten Ritus wieder zuzulassen, ist nach Franziskus „weise“ gewesen. Zugleich bezeichnet er allerdings das Risiko einer Ideologisierung oder Instrumentalisierung des Alten Ritus als „sehr gefährlich“. Er sieht beim Konzil sowohl Kontinuität als auch Diskontinuität. „Aber eines ist klar: Die Dynamik der aktualisierten Lektüre des Evangeliums von heute, die dem Konzil eigen ist, ist absolut unumkehrbar.“
Gott
Franziskus ist überzeugt, „Gott offenbart sich in der Zeit und ist gegenwärtig in den Prozessen der Geschichte“. Allerdings bleibe beim Suchen und Finden Gottes in allen Dingen immer eine Unsicherheit. „Wenn einer Antworten auf alle Fragen hat, dann ist das der Beweis dafür, dass Gott nicht mi ihm ist.“ Gott begegne man auf dem Weg. Franziskus erinnert in diesem Kontext an Abraham, den Urvater des Glaubens, der sei aufgebrochen, ohne genau zu wissen, wohin er gehen soll. „Wenn der Christ ein Restaurierer ist, ein Legalist, wenn er alles klar und sicher haben will, dann findet er nichts. Die Tradition und die Erinnerung an die Vergangenheit müssen uns zu dem Mut verhelfen, neue Räume für Gott zu öffnen. Wer heute immer disziplinäre Lösungen sucht, wer in übertriebener Weise die ‚Sicherheit‘ in der Lehre sucht, wer verbissen die verlorene Vergangenheit sucht, hat eine statische und rückwärts gewandte Vision. Auf diese Weise wird der Glaube eine Ideologie unter vielen. Ich habe eine dogmatische Sicherheit: Gott ist im Leben jeder Person. Gott ist im Leben jedes Menschen. Auch wenn das Leben eines Menschen eine Katastrophe war, wenn es von Lastern zerstört ist, von Drogen oder anderen Dingen: Gott ist in seinem Leben. Man kann und muss ihn in jedem menschlichen Leben suchen. Auch wenn das Leben einer Person ein Land voller Dornen und Unkraut ist, so ist doch immer ein Platz, auf dem der gute Same wachsen kann. Man muss auf Gott vertrauen.“
Fazit
Es lohnt sich, das Interview zu lesen – klar. Es ist nicht leicht zu lesen; denn der Text ist gleichsam die Abschrift eines Gesprächs zwischen Pater Antonio Spadaro und Papst Franziskus. Nicht alle Gedanken sind bis ins Detail entfaltet; manchmal sind Sprünge an Stellen, an denen man sich weitere Präzisierung gewünscht hätte. Aber da bleibt ja dann der Raum für weitere Gespräche und Interviews mit dem Papst. Es kann aber meines Erachtens durchaus dazu beitragen, das Denken und Handeln von Papst Franziskus besser zu verstehen. Durch die gleichzeitige Veröffentlichung in 16 Zeitschriften und vielen Sprachen ist dem Papst wenige Tage nach seinem weltweiten Friedensgebet für Syrien, ein weiterer globaler Coup gelungen.