Papst: Wohin steuerst Du, Europa?
Mit einer eindringlichen Mahnung an Europa, wieder eine Führungsrolle in der Welt zu übernehmen, hat Papst Franziskus seinen Besuch in Portugal begonnen. Der erste Tag der 42. Auslandsreise des Pontifex stand im Zeichen der Politik. Er hoffe, „dass der Weltjugendtag für den ‚alten Kontinent‘ ein Impuls weltweiter Öffnung wird“, erklärte Franziskus beim Treffen mit Vertretern aus Politik, Zivilgesellschaft und Diplomatischem Korps im Kulturzentrum in Lissabon. Die Welt brauche das „wahre Europa“ in seiner Rolle als Brückenbauer und Friedensstifter. Dabei sparte er nicht mit Kritik. „Wohin steuert ihr, Europa und Westen, mit der Ausgrenzung älterer Menschen, den Mauern mit Stacheldraht, den Massakern auf See und den leeren Wiegen?“ Anlass der Reise nach Portugal ist der Weltjugendtag, zu dem mehr als 300.000 Jugendliche in die portugiesische Hauptstadt gekommen sind. Die Stadt ist voll, die Stimmung gut. Auf den ersten Blick scheinen die Krisen, in der die Kirche an vielen Stellen rund um den Globus steckt, vergessen. Doch sie sind präsent – etwa der Missbrauchsskandal durch eine große Plakataktion in der Innenstadt von Lissabon. Am Abend traf Papst Franziskus 13 Betroffene sexualisierter Gewalt durch Kleriker.
Traum von neuem Europa
Sie lassen sich schon beinahe nicht mehr zählen, die „Ruckreden“ zu Europa dieses Pontifex. Wo ist die alte Stärke, zu der Europa nach den Kriegswirren in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts gefunden hat und aus ehemaligen Feinden Freunde wurden. Einmal mehr wollte Franziskus nicht vom „alten Kontinent“ sprechen, sondern vom „gealterten“, wie er spontan einfügte. „Wohin steuerst du [Europa], wenn du der Welt keinen Friedenskurs vorschlägst?,“ fragte er kritisch. „Welchen Kurs verfolgst du, Westen?“ Technologie, die Fortschritt markiere und die Welt globalisiert habe, reiche nicht aus. „Noch weniger reichen die fortschrittlichsten Waffen, die keine Investitionen für die Zukunft darstellen, sondern eine Verarmung des wahren Kapitals der Menschen, nämlich jenes der Bildung, der Gesundheitsversorgung und des Sozialstaats.“ Es sei erschreckend, dass an vielen Stellen in Waffen investiert werde, statt in Kinder.
„Ich träume von einem Europa als dem Herzen des Westens, das seinen Einfallsreichtum dafür einsetzt, um Kriegsherde zu löschen und Lichter der Hoffnung zu entzünden; ein Europa, das es versteht, seine junge Seele wiederzuentdecken, das von der Größe des Zusammenseins träumt und über die Bedürfnisse des Augenblicks hinausgeht; ein Europa, das Völker und Menschen einbezieht, ohne ideologischen Theorien und Kolonialisierungen hinterherzulaufen.“ Franziskus sprach von „drei Baustellen der Hoffnung“. Dazu gehöre die Umwelt. Zwar gebe es in Europa schon viele Anstrengungen, doch die Lage sei ernst. „Wie können wir sagen, dass wir an die jungen Menschen glauben, wenn wir ihnen keinen gesunden Raum geben, um eine Zukunft aufzubauen?“
Politik für junge Menschen
Mit Blick auf die Zukunft, die zweite Baustelle, erinnerte er an die schwierige Situation vieler junger Menschen: fehlende Arbeit, steigende Lebenshaltungskosten, Wohnungsnot, die Angst, eine Familie zu gründen und Kinder zu bekommen. Hier forderte er die Politik zum Handeln auf. Wirtschaftliche Ungleichgewichte des Marktes müssten korrigiert werden und „generationenübergreifende Allianzen“ befördert. Als dritte Baustelle benannte er die Geschwisterlichkeit. Hier ermutigten die Jugendlichen mit ihrem Ruf nach Frieden und ihrer Lebenslust dazu, „die starren Zäune der Zugehörigkeit einzureißen, die im Namen unterschiedlicher Auffassungen und Glaubensüberzeugungen errichtet worden sind“.
Die jungen Menschen, die aus der ganzen Welt nach Lissabon gekommen sind, forderten heraus, „ihre Träume vom Guten zu verwirklichen“, erklärte Franziskus. „Sie sind nicht auf der Straße, um ihre Wut herauszuschreien, sondern um die Hoffnung des Evangeliums mitzuteilen. Und wenn heute vielerorts ein Klima des Protests und der Unzufriedenheit herrscht, ein fruchtbarer Boden für verschiedene Arten des Populismus und Verschwörungstheorien, so ist der Weltjugendtag eine Gelegenheit, etwas gemeinsam aufzubauen.“ Damit legte Franziskus die Spur für die kommenden Tage. Am Donnerstag wird er erstmals mit den Jugendlichen bei einer großen Willkommensfeier zusammentreffen. Bis Sonntag sind dann noch drei weitere Begegnungen geplant mit dem Kreuzweg am Freitag, der Vigil am Samstag und der Abschlussmesse am Sonntag.
Neues wagen in der Kirche
Bei der Begegnung mit Vertretern aus Klerus, Ordensleuten, Seminaristen und Pastoralmitarbeitern ermutigte Franziskus diese, angesichts von Säkularismus, einer zunehmenden Gleichgültigkeit gegenüber Gott und Abkehr von der Glaubenspraxis nicht zu resignieren. „Es ist nicht die Zeit, anzuhalten und aufzugeben“, stellte er fest. Vielmehr solle man angesichts dieser Situation die Versuchung überwinden, „eine ‚Pastoral der Nostalgie und des Nachtrauerns‘ zu betreiben“. Im Vertrauen auf Christus gehe es darum, „gemeinsam manch neuen Weg zu erproben“. Man könne die Situation als Chance betrachten, „die Laien mit geschwisterlichem Elan und gesunder pastoraler Kreativität einzubinden“. Wenn es keinen Dialog, keine Mitverantwortung und keine Beteiligung gebe, altere die Kirche, so Franziskus. „Die Kirche ist synodal, sie ist Gemeinschaft.“
Nur sehr allgemein ging Franziskus bei dem Gottesdienst auf die Fehler der Kirche ein, als er von der Enttäuschung und dem Zorn sprach, den manche gegenüber der Kirche empfänden, „manchmal wegen unseres schlechten Zeugnisses und der Skandale, die ihr Antlitz entstellt haben und die zu einer demütigen und beständigen Läuterung aufrufen, ausgehend vom Schmerzensschrei der Opfer, die immer aufgenommen und gehört werden müssen“. Interessant ist, dass er anerkennt, dass die Opfer eine zentrale Rolle bei der Läuterung der Kirche haben. Dennoch hat er eine Chance verpasst, den Missbrauch in seinen unterschiedlichen Formen explizit zu benennen und Konsequenzen daraus aufzuzeigen. Am Abend traf Franziskus in der Nuntiatur 13 Betroffene sexualisierter Gewalt. Das Gespräch habe über eine Stunde gedauert und in einem „Klima intensiven Zuhörens“ stattgefunden, erklärte der Vatikan im Anschluss.
Anstrengende Reise
Die Reise nach Lissabon ist die erste für Franziskus nach seiner Bauch-OP vor rund zwei Monaten. Immerhin nahm er sich am Morgen eine halbe Stunde Zeit und lief durch das Flugzeug, um jeden der knapp 80 mitreisenden Journalisten zu begrüßen. Es strengte ihn sichtlich an, doch er wollte offenbar nicht darauf verzichten. Große Neuigkeiten gab es bei den kurzen Gesprächen nicht. Er werde sicher verjüngt aus Lissabon zurückkehren, zeigte er sich überzeugt. Ob er im kommenden Jahr seine Heimat Argentinien besuchen werde, ließ er offen. Über die Personalie Gänswein wollte er lieber nicht sprechen. In Lissabon stehen ihm nun anstrengende Tage bevor. War das Wetter am Ankunftstag noch gnädig, soll es zum Wochenende hin heiß werden. Die Strapazen der Reise ließ er sich am ersten Tag nicht anmerken. Immerhin fand am Abend noch das Treffen mit den Missbrauchsbetroffenen statt. Der erste Tag war somit geprägt von Politik und dem Thema Missbrauch. Zu Europa fand der Pontifex deutliche Worte. Beim Missbrauch ist die Begegnung wichtig, doch es wären auch hier deutliche Worte notwendig, um nicht nur den Teilnehmenden zu signalisieren, dass der Papst die Sache ernst nimmt und daraus lernen will.
Ein Kommentar
Nach Goethes Faust-Vorspiel, „Ein jeder sucht sich endlich selbst was aus. / Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen“, sagt mir folgender Aufruf in der Ansprache doch zu: „ …. Allianzen zu befördern, in denen die Vergangenheit nicht mit einem Wisch ausgelöscht wird,… .Daran erinnert das portugiesische Gefühl der saudade, das eine Nostalgie ausdrückt, eine Sehnsucht nach dem abwesendem Guten, das nur im Kontakt mit den eigenen Wurzeln wiederbelebt wird. In diesem Sinne ist die Bildung wichtig, die …. dazu bestimmt ist, in eine Geschichte einzuführen, eine Tradition zu überliefern“
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