Missbrauch: Keine unantastbaren Denkmäler

Für viele war es ein Schock, für andere nichts Unerwartetes, was die Studie zum Umgang mit Missbrauchsfällen im Bistum Mainz jetzt zu Tage förderte. In der Zeit der Bischöfe Stohr, Volk und Lehmann gab es massive Versäumnisse. Der Schutz von Tätern und der Kirche stand über der Hilfe für die Betroffene, Aufklärung und konsequenter Verfolgung der Schuldigen. Über 1.100 Seiten umfasst die Studie, die der Regensburger Rechtsanwalt Ulrich Weber mit seinem Team am Freitag vorstellte. Sie lässt das Handeln gerade auch der Kardinäle Volk und Lehmann in neuem Licht erscheinen. Der amtierende Mainzer Bischof, Peter Kohlgraf, stellte in einer ersten Reaktion fest: „Um der Wahrheit für die Betroffenen willen darf es keine unantastbaren Denkmäler mehr geben.“ Dies gelte für Bischöfe und Kardinäle, aber auch für Denkmäler auf anderen Ebenen. Welche Konsequenzen das Bistum konkret aus der Studie zieht, wird Kohlgraf in der kommenden Woche bekannt geben. Erschreckend sind einmal mehr die Zahlen, die bei der Untersuchung zu den Missbrauchsfällen im Bistum Mainz bekannt wurden. Noch mehr erschüttert aber einmal mehr die Erkenntnis, wie die Verantwortlichen in der Bistumsleitung mit den Vorfällen umgegangen sind.

Die Verantwortlichen des Bistums Mainz nach der Vorstellung der Studie durch Rechtsanwalt Ulrich Weber (Hintergrund rechts): Bischof Peter Kohlgraf (2.v.r), Weihbischof und Generalvikar Udo Bentz (3.v.r.), und Stephanie Rieth, Bevollmächtigte des Generalvikars. (Quelle: dpa)

Kluft zwischen Wort und Tat bei Lehmann

181 Beschuldigte und 401 Betroffene sieht der Rechtsanwalt „nach Prüfung von Verantwortung, Tatbestand und Plausibilität“ für das Bistum Mainz in den Jahren von 1945 bis 2022. 96 Prozent der Beschuldigten sind männlich, 65 Prozent Kleriker. Bei 19 Prozent der Taten handelt es sich um einmalige Vorfälle, bei 81 Prozent um Mehrfachtaten. Die Betroffenen sind demnach zu 59 Prozent männlich. Die Altersspanne liegt zwischen drei und 62 Jahren. 54 Prozent der Fälle liegen zwischen 1960 und 1989. Die aktuelle Bistumsverwaltung habe laut Weber an keiner Stelle die Arbeit behindert. Er und seine Mitarbeitenden hätten zu allen Akten Zugang gehabt, die sie einsehen wollten. Auf anderer Ebene sah es nicht ganz so positiv aus. So hätten sich trotz expliziter Aufforderung durch das Bistum über 40 Prozent der Pfarreien und mehr als 20 Prozent der caritativen Einrichtungen nicht an einer Umfrage der Kanzlei zum Thema beteiligt. Weber sieht darin allerdings keinen grundlegenden Nachteil für die Studie, da diese Umfrage das Ziel gehabt habe, die bereits durch Aktenrecherche erzielten Ergebnisse gegenzuchecken. Dies sei auch mit dem vorhandenen Rücklauf möglich gewesen.

Was die einzelnen Bischöfe anbetrifft, überschreibt Weber die Zeit von Bischof Albert Stohr (1945-1961) mit den Worten „Ermahnen und Versetzen“, die von Kardinal Hermann Volk (1962-1982) mit „Verharmlosen und Verschweigen“. Die Zeit von Bischof Karl Lehmann teilt er in drei Phasen. 1983 bis 2001 sieht der Rechtsanwalt als die Zeit des „Abwehren und Vortäuschen“, die Jahre 2002 bis 2009 als „Herausreden und Verteidigen“ und schließlich die letzte Phase von 2010 bis 2017 als „Eingestehen und Bewältigen“. Insgesamt sei bei Lehmann „ein erheblicher Gegensatz zwischen öffentlichem Auftreten und persönlichen Einstellungen und Handlungen zu erkennen“. Er habe den in eigenen Worten formulierten Anspruch für den Umgang mit sexuellem Missbrauch „selbst zu keiner Zeit erfüllt“. Die untersuchte Zeit von Bischof Peter Kohlgraf (2017-2022) überschreibt Weber mit „Lernen und Aufarbeiten“. Der Umgang mit Beschuldigten sei „sehr konsequent“, Vorgaben aus Kirchenrecht und den Leitlinien zum Umgang mit Missbrauchsfällen würden stets eingehalten. „In einigen Fällen vorhandene Mängel im Umgang mit Betroffenen liegen vor allem auf organisatorisch-kommunikativer Ebene und scheinen nicht auf einem generell fehlenden Unterstützungswillen zu basieren“, erklärt Weber mit Blick auf die Amtszeit des aktuellen Bischofs von Mainz.

Mit Blick nach vorne stellen die Autoren der Studie fest, „dass der bisherige Fokus auf standardisierte Verfahren für Anerkennung und Therapiehilfe nicht ausreichend ist“. Hier müsse es individuelle Ansätze geben bis hin zu einer „Lebensbegleitung der Betroffenen“. Wichtig sei zudem, dass Verantwortung übernommen werde und eine „angemessene Erinnerungskultur“ entwickelt werde. Bei den Präventionskonzepten müsste auch der jeweils Beschuldigte stärker in den Blick genommen werden, „um bei diesem die Bereitschaft zu erhöhen und die Hürde zu verringern, sich frühzeitig anzuvertrauen und Hilfe anzunehmen, um andere nicht zu gefährden“.

Wahrheit muss ans Licht

Die Studie des Bistums Mainz reiht sich ein in die Vielzahl von Gutachten und Studien, die in den einzelnen Bistümern aktuell entstehen. Mitte Februar wurde eine solche Untersuchung im Bistum Essen vorgestellt, Mitte April folgt das Erzbistum Freiburg. Die Ergebnisse sind erschreckend, aber nicht überraschend. Eine Alternative zu diesen Studien und Gutachten gibt es nicht. Die Wahrheit muss ans Licht. Dass die Bistümer dabei selbst die Auftraggeber der Untersuchungen sind, ist ein Geburtsfehler der Aufarbeitung. Die Politik ist dabei nicht ganz unschuldig. Sie beschränkt sich an vielen Stellen in den vergangenen Jahren darauf, das Vorgehen der katholischen Kirche zu kritisieren, ohne selbst das Heft des Handelns an sich zu ziehen.

Im Falle des Bistums Mainz stehen die Verantwortlichen nun noch einmal vor einer besonderen Herausforderung. Der langjährige Mainzer Bischof, Kardinal Karl Lehmann, gehört zu den herausragenden Persönlichkeiten des kirchlichen Lebens der vergangenen Jahrzehnte. Keiner hat wie er die die katholische Kirche geprägt. Keiner stand wie er für einen Reformkurs bei Theologie und Kirchenstrukturen, gerade auch im Ringen mit Rom und Papst Johannes Paul II. und seinem langjährigen Glaubenspräfekten Joseph Ratzinger. Wie kann hier eine Erinnerungskultur entstehen, die den beiden Seiten dieses Kirchenmannes gerecht wird? Am 8. März wird es erste Antworten geben, wenn der Nachfolger Lehmanns, Peter Kohlgraf, die ersten Konsequenzen vorstellen wird, die das Bistum aus der Studie ziehen will. Bedenklich ist, dass sich so viele Gemeinden nicht an der Umfrage der Rechtsanwaltskanzlei beteiligt haben. Hier täte das Bistum gut daran, die Gründe zu erforschen.

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Jürgen Erbacher

Seit Juli 2018 leite ich die ZDF-Redaktion "Kirche und Leben katholisch", für die ich seit 2005 über die Themen Papst, Vatikan, Theologie und katholische Kirche berichte. Dafür pendle ich regelmäßig zwischen Mainz und Rom - meiner zweiten Heimat. Dort habe ich vor meiner ZDF-Zeit mehrere Jahre gelebt und für Radio Vatikan gearbeitet. Studiert habe ich Politikwissenschaft und Katholische Theologie in Freiburg i.Br. und Rom.

5 Kommentare

  • Wanda
    06.03.2023, 2:35 Uhr.

    Glaubt denn wirklich jemand, daß wie in weltlichen Gerichtsverfahren am Ende eine handfeste Verurteilung mit Namen der Verantwortlichen, Mitwisser und der noch lebenden Täter erfolgt ? Ein Woelki auf der weltlichen Anklagebank, undenkbar ! Diese Kirche mit ihrem abgehobenen geistlichen Kirchenadel (grotesk angesichts der Lehre von Demut und dem Armutsideal) ist nicht zu reformieren und wenn, dann wird es nur Kosmetik sein. Amtskirche und Gläubige: die Schere geht immer weiter auseinander.

  • Wanda
    06.03.2023, 18:27 Uhr.

    Die heutigen Kommentare zum Artikel des BR unter der Schlagzeile „Kardinal Marx fordert Debatte über die Sexuallehre“ zeigt ziemlich deutlich was die Menschen davon halten und welche Meinung sie über diese nun schon fast komischen Verrenkungen der Geistlichkeit haben.

  • Erasmus
    07.03.2023, 1:44 Uhr.

    DIE EPISKOPALE VERLEUGNUNG ABGRÜNDIGER KIRCHLICHER REALITÄT WAR PERSONEN-UNABHÄNGIG
    Der populäre, theologisch hochkompetente und sich in seinem ungebremsten Engagement nicht schonende KARL-KARDINAL-LEHMANN war ein Hoffnungsträger für viele deutsche Katholiken.
    Zusammen mit dem Bischof von Rottenburg-Stuttgart und dem Freiburger Erzbischof setzte er sich bereits 1993 dafür ein, WIEDERVERHEIRATETEN GESCHIEDENEN in begründeten Einzelfällen den Kommunionempfang zu ermöglichen. Die drei oberrheinischen Bischöfe stießen mit dieser Initiative allerdings bei dem obersten Glaubenshüter in Rom, Joseph Ratzinger, auf Granit.
    Vier Jahre lang kämpfte Bischof Lehmann an der Spitze der deutschen katholischen Kirche mit starken Argumenten für den Verbleib der katholischen Schwangerenkonfliktberatungsstellen im gesetzlichen Beratungssystem der BRD. Ende 1999 musste er sich dem von Rom – sprich Joseph Ratzinger und Johannes Paul II. – verfügten ZWANGSAUSSTIEG aus der staatlichen Konfliktberatung beugen.
    Indem erzkonservative Kreise das abschätzig gemeinte Wort „LEHMANN-KIRCHE“ kreierten, unterstrichen sie nur die Bedeutung des Vorsitzenden der deutschen Bischofskonferenz, dem ein menschenfreundlicherer Katholizismus ein großes Anliegen war.
    Wenn man leider zur Kenntnis nehmen muss, dass sich auch ein so honoriger Kirchenmann wie Karl Lehmann im Hinblick auf klerikalen sexuellen Missbrauch nicht anders verhalten hat als andere Bischöfe auch, dann ist das ein schwerwiegendes Argument für die SYSTEMISCHE DIMENSION des katholischen Missbrauchsdebakels. Eine Gedichtzeile von Christian Morgenstern gibt die Grundhaltung der hohen katholischen Geistlichkeit gut wieder: „Es kann nicht sein, was nicht sein darf.“
    In der Folge kommt es zu einer REALITÄTSVERBIEGUNG. Diese reicht von einer Bagatellisierung von Häufigkeit und Schwere von Sexualdelikten, über eine Täter-Opfer-Verschiebung (dem sündigen Mitbruder muss geholfen werden, wieder auf den rechten Weg zu finden) bis hin zu den psychoanalytischen Abwehrmechanismen der Verleugnung und Verneinung.
    Als der BOSTON GLOBE 2002 hundertfachen klerikalen sexuellen Missbrauch in den USA aufdeckte, sagte Lehmann im SPIEGEL-Interview: „Wir haben das Problem nicht in diesem Ausmaß. Warum soll ich mir den Schuh der Amerikaner anziehen, wenn er mir nicht passt?“ Bischof Lehmann wollte die erschreckende Realität klerikalen sexuellen Missbrauchs auch in Deutschland einfach nicht wahrhaben.
    Der deutsche SYNODALE WEG, auf dem Laien und Bischöfe gemeinsam Konsequenzen aus dem Systemversagen der Kirche ziehen, ist eine stringente Antwort auf die aktuelle KIRCHENKRISE. Leider versagt Rom diesem die gebührende Anerkennung.

  • Silvia
    09.03.2023, 19:30 Uhr.

    In diesem Zusammenhang würde mich interessieren, welche Rolle der Vatikan bei der allgemeinen Vertuschung sexuellen Missbrauchs möglicher Weise gespielt hat. Ob es da eine entsprechende Anweisung gab, wie zu verfahren ist.

    Ich meine das nicht primär bezogen auf Kardinal Lehmann sondern generell.

    Sämtliche bisher veröffentlichte Missbrauchsstudien weisen bei Bischöfen Vertuschen nach.

    In den fraglichen Zeiträumen der diversen bisherigen Untersuchungen gab es so gut wie kein gesellschaftliches Bewusstsein für dieses Problem.

    Die Essener Studie greift in diesem Zusammenhang z.B. die unrühmliche Rolle von Pfarrgemeinden auf. Was mich überhaupt nicht überrascht hat, denn ich bin in diesem Milieu aufgewachsen.

    Um noch einmal auf Kardinal Lehmann zu kommen: Er war eine positiv herausragende Persönlichkeit der katholischen Kirche in Deutschland, aber eben auch ein Kind/Bischof seiner Zeit.

    Ich werde ihm trotzdem ein ehrendes Andenken bewahren.

  • Wanda
    10.03.2023, 15:03 Uhr.

    @Silvia 09.03. 19:30
    – Teile Ihre und auch @Eramus’Ansicht über Kardinal Lehmann: er war wirklich eine insgesamt positive und sehr menschliche Ausnahme unter Seinesgleichen. Daß er sich den Anweisungen des Vatikan beugen musste und ihn kleinmütige Kollegen im Stich ließen, ist leider auch Tatsache.

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