Papst in Lateinamerika – Tag 4

Papst Franziskus ist in Bolivien angekommen. Es ist das zweite Land nach Ecuador während seiner einwöchigen Reise nach Lateinamerika. Bei einer 13 Kilometer langen Papamobilfahrt von El Alto in die bolivianische Hauptstadt La Paz feierten mehrere Zehntausend Menschen den Papst frenetisch. In seinen ersten beiden Ansprachen unterstrich er den politischen Auftrag der Kirche und forderte einmal mehr die Beteiligung aller Bevölkerungsgruppen an den gesellschaftlichen Prozessen. Niemand darf ausgeschlossen werden. Er ging auch auf die zwischenstaatlichen Konflikte in Lateinamerika ein und forderte zum Dialog auf. „Man muss Brücken bauen anstatt Mauern aufzurichten“, so Franziskus. Vor seinem Abflug aus Ecuador hatte er noch ein Altenheim der Mutter-Teresa-Schwestern besucht und sich mit Ordensleuten, Priestern und Seminaristen getroffen. Dabei hatte er erstmals während der Reise eine komplette Ansprache improvisiert.

Improvisation bei den Ordensleuten und Klerikern

Auch ein Papst hat einmal keine Lust. Bei Franziskus war es heute Morgen beim Treffen mit den Ordensleuten, Priestern und Seminaristen der Fall. Im Marienheiligtum El Quinche sagte er, dass er zwar eine Rede vorbereitet habe, nun aber keine Lust habe, sie vorzutragen. Stattdessen hielt er eine lange, sehr persönliche Ansprache. Zwei zentrale Punkte, die der den Ordensleuten und Klerikern mit auf den Weg gab, waren: Unentgeltlichkeit und das Erinnern. Wie schon in seiner berühmten Weihnachtsansprache an die Römische Kurie 2014 warnte er von „geistlichem Alzheimer“. „Verlieren Sie nicht das Gedächtnis! Vor allem denken Sie immer daran, wo Sie herkommen. Verleugnen Sie Ihre Wurzeln nicht, fühlen Sie sich nicht bevorzugt!“ Franziskus unterstrich den Dienstcharakter des geistlichen Amtes und Standes.

Mit knapp einer Stunde Verspätung brach der Pontifex dann gegen 13 Uhr von Quito aus nach Bolivien auf. Dort empfing ihn im 4000 Meter hoch gelegenen El Alto Präsident Evo Morales. Franziskus machte gleich in seiner Begrüßungsansprache deutlich, dass er sich von der Gallionsfigur der linksgerichteten Regierungschefs in Lateinamerika nicht vor den Karren spannen lässt, auch wenn es  sicher inhaltliche Gemeinsamkeiten gibt. Der Papst unterstrich den Anspruch der Kirche, die Gesellschaft aktiv mitzugestalten, um „am Aufbau einer gerechteren und solidarischeren Welt“ mitzuarbeiten. Und er stellte sich hinter die örtlichen Bischöfe, zu denen Morales kein gutes Verhältnis hat und sie gerne als Relikt aus der spanischen Kolonialzeit bezeichnet und kurzerhand den Religionsunterreicht an Schulen durch Ethikunterricht ersetzt hat. Franziskus: „Die Stimme der Hirten, die eine prophetische sein muss, spricht zur Welt im Namen der Mutter Kirche, ausgehend von ihrer auf dem Evangelium gründenden vorrangigen Option für die Geringsten.“ Später wird er noch an die Religionsfreiheit erinnern und kritisieren, dass man den Glauben nicht ins Private abdrängen dürfe. „Der Glaube ist keine Subkultur“, so Franziskus.

Entfaltung der Enzyklika

Die Ansprache zur Begrüßung wie auch später vor Diplomaten und Politikern erinnerte an vielen Stellen an die neue Enzyklika. Er sprach bei der Ankunft von einer ganzheitlichen Entwicklung des Volkes. „Wenn es sich beim Wachstum um ein bloß materielles handelt, läuft man immer Gefahr, wieder neue Unterschiede zu schaffen, bei denen der Überfluss der einen auf dem Mangel der anderen beruht.“ Vor den Politikern mahnte er, „Gemeinwohl“ nicht mit „Wohlstand“ zu verwechseln. „So verstanden brütet der Wohlstand, anstatt zu helfen, mögliche Konflikte und soziale Auflösung aus. Als beherrschende Sicht, die sich durchgesetzt hat, gebiert er das Übel der Korruption, das sehr entmutigt und großen Schaden anrichtet.“

Wie schon in Ecuador mahnt er, keinen aus den gesellschaftlichen und politischen Prozessen auszuschließen und macht sich für die örtlichen Volksgruppen stark. Er spricht von einer „vielgestaltigen Harmonie“. Franziskus erinnert mich immer wieder an den Freiburger Politologen Dieter Oberndörfer. Der weigerte sich immer von einer multikulturellen Gesellschaft zu sprechen, sondern vielmehr von einer Gesellschaft kultureller Vielfalt. Während beim ersten eine irgendwie geartete Mischkultur herauskommt, in der jede Kultur ihre Identität aufgeben muss, bleiben  beim zweiten Modell kulturelle Identitäten bis zu einem gewissen Grad erhalten. Dieses Modell predigt Franziskus nicht nur hier in Lateinamerika, wo alle Länder eine Mischung aus verschiedensten Traditionen in sich bergen.

Papst zur strittigen „Meerfrage“

Kurz spricht Franziskus das Thema Migration an. „Die Entwicklung der Diplomatie mit den Nachbarländern, um Konflikte zwischen Brudervölkern zu vermeiden und zum freimütigen und offenen Dialog über die Probleme beizutragen, ist heute unerlässlich.“ Seien die Themen auch noch so heikel, gebe es „gemeinsame, vernünftige und dauerhafte Lösungen“, so Franziskus. Abweichend vom Redemanuskript sprach Franziskus das heikle Kapitel des Streits zwischen Bolivien und Chile über einen Meerzugang Boliviens an. „Ich denke an das Meer. Nur ein ehrlicher Dialog kann helfen.“ Präsident Morales hatte dem Papst kurz zuvor unter anderem ein Buch geschenkt, in dem es um die Forderung Boliviens gegenüber Chile nach einem Meerzugang geht.

Die Themen wiederholen sich. Die Probleme sind eben auch überall die gleichen. Bolivien macht Franziskus Mut. Auch wenn im Lob Kritik steckt, denn der Pontifex spricht von „können“ nicht von „sein“: „In diesem Land, wo die Ausbeutung, die Geldgier, die vielfachen Egoismen und die sektiererischen Sichtweisen seine Geschichte überschattet haben, kann heute die Zeit der Integrationen stattfinden. Heute kann Bolivien ‚neue kulturelle Synthesen schaffen‘.“ Franziskus zeigt sich hier in Lateinamerika als Mann des Dialogs und der Begegnung. Er will Ausgrenzung, Misstrauen, Egoismus und Individualismus überwinden helfen. Dazu scheint er in seinem Heimatkontinent zurückgekehrt zu sein, in dem unter einer fröhlichen Oberfläche tiefe Gräben existieren, explosive Konflikte schlummern und die Last der Geschichte die Gegenwart zu erdrücken droht.

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Jürgen Erbacher

Seit Juli 2018 leite ich die ZDF-Redaktion "Kirche und Leben katholisch", für die ich seit 2005 über die Themen Papst, Vatikan, Theologie und katholische Kirche berichte. Dafür pendle ich regelmäßig zwischen Mainz und Rom - meiner zweiten Heimat. Dort habe ich vor meiner ZDF-Zeit mehrere Jahre gelebt und für Radio Vatikan gearbeitet. Studiert habe ich Politikwissenschaft und Katholische Theologie in Freiburg i.Br. und Rom.