Familie in der Krise

Es ist eine erstaunlich ehrliche Analyse, die der Vatikan heute zum Thema Ehe und Familie vorgelegt hat. Kardinal Lorenzo Baldisseri stellte das Arbeitspapier vor, das als Grundlage für die Sondersynode zu Ehe und Familie im Oktober im Vatikan gilt. Darin sind die Ergebnisse der weltweiten Umfrage zum Thema zusammengefasst, die Ende vergangenen Jahres bereits für Schlagzeilen gesorgt hatte. Nicht dass die Ergebnisse überraschend oder neu wären. Eigentlich liegt seit Jahren offen auf der Hand, dass in vielen Ländern bei Fragen von Ehe und Sexualmoral eine breite Kluft zwischen kirchlicher Lehre und Lebenspraxis der Menschen liegt; doch für vatikanische Verhältnisse spricht das Papier dieses Problem in einer ungewohnt deutlichen Sprache aus. Es verspricht eine offene und kontroverse Diskussion bei der Sondersynode vom 5. bis 19. Oktober im Vatikan.

Das Arbeitspapier trägt den Titel der Außerordentlichen Bischofssynode vom Oktober „Die pastoralen Herausforderungen im Hinblick auf die Familie im Kontext der Evangelisierung“ und gliedert sich in drei Teile: 1. Heute das Evangelium der Familie vermitteln. 2. Die Familienpastoral angesichts neuer Herausforderungen. 2. Die Offenheit für das Leben und die erzieherische Verantwortung.

Krise des Naturrechts

In 158 Abschnitten fassen die Redaktoren des Papiers die Ergebnisse der weltweiten Umfrage zusammen. Der Katalog hatte 39 Fragen von der Akzeptanz des Naturrechts über die Bekanntheit lehramtlicher Dokumente zum Thema Ehe und Familie bis hin zu den Herausforderungen der Pastoral angesichts veränderter Lebensbedingungen und Fragen nach dem Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen oder gleichgeschlechtlichen Partnerschaften. Das jetzt vorgelegte Papier gibt einen Überblick über die Herausforderungen, vor denen die Familie, aber auch die katholische Kirche bei diesem Thema weltweit stehen. Das Papier analysiert die Situation der Familien angesichts schwieriger Rahmenbedingungen etwa durch Veränderungen in der Arbeitswelt oder Arbeitslosigkeit, durch Migration, Armut und Gesellschaftsmodelle, die von „Konsumismus und Individualismus“ geprägt sind. Ausdrücklich geht der Text an mehreren Stellen auf die Situation Alleinerziehender ein.

An einigen Stellen des Textes lässt sich aufgrund der Formulierungen und der Sprache auch etwas von der Atmosphäre erspüren, mit der bestimmte Ergebnisse im Vatikan aufgenommen wurden. Völlig perplex scheint man zu sein, dass das Naturrecht, das als Grundlage für große Teile der Moral und des Rechts in der Kirche dient, fast nirgendwo mehr verstanden wird, geschweige denn akzeptiert zu sein scheint. „Heute stellt, nicht nur im Westen, sondern zunehmend in allen Teilen der Welt, die wissenschaftliche Forschung eine ernstzunehmende Herausforderung für die Vorstellung von Natur dar.“ (22) Der Text stellt die Frage, was noch „natürlich“ ist, wenn ein gemeinsames weltweites Bezugssystem fehlt. „Einerseits stehen wir vor dem Verlust der Bedeutung von „Naturrecht“. Andererseits aber heben verschiedene Bischofskonferenzen aus Afrika, Ozeanien und Ostasien hervor, dass in einigen Regionen die Polygamie als „natürlich“ empfunden wird, so wie es auch „natürlich“ ist, jene Frau zurückzuweisen, die nicht in der Lage ist, ihrem Mann Kinder – oder männliche Kinder – zu schenken.“ Für die katholische Kirche und ihr auf dem Naturrecht basierenden Denk- und Rechtssystem eine dramatische Situation, die allerdings nicht neu ist. Nur bisher hatte man über dieses Problem gerne hinweggesehen.

Sehnsucht nach Familie als „Zeichen der Zeit“

Die größten Herausforderungen sieht das Papier bei den hohen Scheidungsraten, der Empfängnisverhütung, der künstlichen Befruchtung und den gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften. In Bezug auf die „ärmeren und nicht vom westlichen Gedankengut beeinflussten Völker“ sind es Phänomene wie der Machismo, Polygamie, Inzest, Ehen unter Minderjährigen sowie Scheidung wegen Unfruchtbarkeit oder des Mangels an männlichen Nachkommen.

Trotz der „Probleme“ spricht das Papier von einer echten Sehnsucht und einem „Wunsch nach Familie“, die gerade in der jüngeren Generation stark vorhanden seien. Dies sei ein „echtes Zeichen der Zeit“, auf das die Kirche mit einer lebenslangen Begleitung reagieren müsse. Neben der Frage, wie sich die Kirche zu den oben beschriebenen Herausforderungen in ihrer Lehre verhält und gegebenenfalls neu positioniert, geht es auch um eine neue Ausrichtung der Pastoral. Die Gründe für die Schwierigkeiten bei der Akzeptanz der Lehre der Kirche sieht das Papier unter anderem im Einfluss der Massenmedien, einer hedonistischen Kultur, im Relativismus und Materialismus, dem wachsenden Säkularismus sowie der Haltung einer „flüchtigen Gesellschaft“. (15)

Unsicherheit bei „heißen Eisen“

Hier zeigt sich meines Erachtens gerade beim Thema gleichgeschlechtliche Partnerschaften (110ff), in welcher Zwickmühle sich die katholische Kirche befindet. Klar bleibt das Papier bei der Ablehnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paar sowie der Adoption. Doch wird in den Ergebnissen wohl deutlich, dass die bisherige Position: Diskriminierung = Nein, aber auch Partnerschaft = Nein irgendwie nicht richtig passt. Von einem „Unbehagen“ ist da die Rede „angesichts der Herausforderung, die barmherzige Annahme dieser Menschen und die Bestätigung der Morallehre der Kirche durch eine entsprechende Seelsorge, die alle Bereiche des Menschen umfasst, zu verbinden.“ (116)  Viele Bischofskonferenzen wünschen sich eine einen Dialog mit den Humanwissenschaften, „um eine differenziertere Sicht des Phänomens der Homosexualität entwickeln zu können“. Übrigens: Trotz der Ablehnung der Adoption, wenn ein gleichgeschlechtliches Paar für ein Kind die Taufe erbittet, soll das natürlich möglich sein.

Das in Deutschland viel diskutierte Thema der wiederverheirateten Geschiedenen (86ff) wird natürlich auch breit behandelt. Allerdings gibt es in dem Papier keine Lösungen. Das müssen die Teilnehmer der beiden Synoden leisten. Doch es wird klar formuliert, dass die Verweigerung des Sakraments der Eucharistie auf breiter Front nicht verstanden wird und hier Änderungen gewünscht werden. Auch das Thema Ehenichtigkeitsverfahren wurde in den Rückmeldungen zum Fragebogen wohl oft angesprochen, allerdings sehr uneinheitlich. Während die einen eine Vereinfachung des Verfahrens fordern, warnen andere davor, dadurch der Idee der „Scheidung auf katholisch“ Vorschub zu leisten. Dieses Thema bleibt spannend und offen bis zuletzt.

Das Thema Empfängnisregelung (121ff) wird unter dem Stichwort „Offenheit für das Leben“ und einem starken Akzent auf der Enzyklika Humanae Vitae behandelt. Hier ist der Text etwas schwammig. Es schwingt, wie auch an einigen anderen Stellen des Papiers, Kritik an einer aus Sicht der Autoren weit verbreiteten „Gender-Ideologie“ durch. Es wird die Förderung einer „kohärenten Anthropologie“ angemahnt, um die kirchliche Position verständlicher zu machen. Schließlich geht es um die „zivile Verantwortung der Christen, Gesetz und Strukturen zu fördern, welche eine dem werdenden Leben gegenüber positive Haltung fördern“. (131)

Dürfen Betroffene mitreden?

Das Arbeitspapier ist sicher eine gute Grundlage für die kommenden Diskussionen. Entscheidend wird jetzt sein, wie der weitere Prozess strukturiert sein wird und wer an den Diskussionen beteiligt wird. An der zweiwöchigen Sondersynode im Oktober nehmen die Vorsitzenden der Bischofskonferenzen aus aller Welt teil. Denen bescheinigt man im Allgemeinen eine größere Nähe zur realen Situation als den Kardinälen, vor allem den Kurienkardinälen. Daher dürfte die Diskussion anders verlaufen, als beim Konsistorium Ende Februar. Doch wen wird der Papst als weitere Synodenteilnehmer benennen? Werden Familien beteiligt? Geschiedene Wiederverheiratete? Frauen und Männer, die in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften leben? Das Organ heißt „Bischofssynode“ – doch darf es nicht eine Diskussion „über“ sein, sondern muss zur Diskussion „mit“ werden. Hier ist Papst Franziskus gefragt. Er ernennt neben den laut Satzung vorgesehenen Bischöfen noch weitere Mitglieder der Synoden. Da wird er Farbe bekennen müssen.

Nach Angaben des Generalsekretärs der Bischofssynode, Kardinal Lorenzo Baldisseri, soll die Synode im Oktober 2014 „die Daten, die Zeugnisse und die Vorschläge der Teilkirchen auswerten und vertiefen mit dem Ziel, auf die Herausforderungen im Hinblick auf die Familie antworten zu können“. Die Synode 2015 soll dann „entsprechende pastorale Handlungslinien erarbeiten“.

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Jürgen Erbacher

Seit Juli 2018 leite ich die ZDF-Redaktion "Kirche und Leben katholisch", für die ich seit 2005 über die Themen Papst, Vatikan, Theologie und katholische Kirche berichte. Dafür pendle ich regelmäßig zwischen Mainz und Rom - meiner zweiten Heimat. Dort habe ich vor meiner ZDF-Zeit mehrere Jahre gelebt und für Radio Vatikan gearbeitet. Studiert habe ich Politikwissenschaft und Katholische Theologie in Freiburg i.Br. und Rom.