Benedikt XVI. wird 95

Kein Kirchenmann hat die Geschicke der katholischen Kirche in den vergangenen Jahrzehnten so stark geprägt wie Joseph Ratzinger. An diesem Samstag feiert er seinen 95. Geburtstag – still und leise. Das liegt nicht zuletzt an der jüngsten Debatte um die Rolle Ratzingers im Missbrauchsskandal der katholischen Kirche. Doch nur auf diesen Aspekt seines Wirkens als Theologe, Erzbischof, Präfekt und Papst zu blicken, greift zu kurz. Ratzinger steht für Widersprüche in der eigenen Biografie und er fordert Widerspruch heraus – auch in seiner Zeit als emeritierter Papst. Ihn in Bausch und Bogen zu verurteilen, wie das Kritiker gerne vorschnell machen, wird ihm nicht gerecht.

Benedikt XVI. bei seinem letzten öffentlichen Auftritt als Papst am Abend des 28. Februar 2013 in Castelgandolfo. (Quelle: reuters)

Vom Konzilsberater zum Präfekten

Joseph Ratzinger begeistert als junger Theologe die Kirchenoberen. Kardinal Josef Frings, Erzbischof von Köln, holte den damaligen Bonner Fundamentaltheologen in sein Team der Konzilsberater. Der spätere Papst war entscheidend daran beteiligt, dass sich die Diözesanbischöfe beim Konzil an vielen Stellen gegen die Kurienvertreter durchsetzen konnten, so manche Reform auf den Weg gebracht wurde. Später in seiner Tübinger Zeit machte er aus einer Vorlesung einen Bestseller. Die „Einführung in das Christentum“ wurde in unzählige Sprachen übersetzt. Millionen verschlangen das Werk und fanden darin einen interessanten Schlüssel zum Verständnis des christlichen Glaubens. Welche Auswirkungen die 68er und die Proteste in Tübingen bis hinein in seine Vorlesungen auf seinen theologischen Wandel haben, ist umstritten.

Die Zeit als Erzbischof von München und Freising zwischen 1977 und 1982 ist kurz. Johannes Paul II. möchte ihn schnell nach Rom holen. Zunächst als Chef der Bildungskongregation. Doch schließlich macht er ihn zum obersten Glaubenshüter. Bis zu seiner Wahl zum Papst im April 2005 bestimmt Ratzinger an der Seite des polnischen Papstes den Kurs der katholischen Kirche. Beide stehen für eine konservative Ausrichtung. Ratzinger will das katholische Profil schärfen. Das gilt in der Ökumene, im Kontakt mit den anderen Religionen genauso wie im Umgang mit den eigenen Gläubigen. Wer von der Lehre abweicht, muss mit Konsequenzen rechnen. Darunter haben viele Theologen gelitten, mit der Befreiungstheologie eine ganze theologische Schule. Für die katholische Kirche hat das Konsequenzen bis heute. Sie atmet an vielen Stellen nur mit einem Flügel, dem eher konservativen. Weltweit haben Millionen Menschen die katholische Kirche verlassen, die diesen konservativen Kurs nicht mittragen wollten.

Neue Akzente beim Thema Missbrauch

Beim Thema Missbrauch ist Joseph Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation erstmals zu Beginn der 2000er Jahre gefordert, als in Irland und den USA erstmals das Ausmaß des Skandals deutlich wird. Erste Regeln werden verschärft. Er versucht, die Bearbeitung in Rom zu zentralisieren, um sie lokaler Willkür zu entziehen und ein einheitliches Vorgehen zu erreichen. Doch die Widerstände vor Ort und in der römischen Zentrale sind groß bis hin zu Papst Johannes Paul II. Das ändert sich noch einmal, als Joseph Ratzinger Papst wird. Die Regeln werden weiter verschärft. Ratzinger teilt nicht das Narrativ vieler Gegner der Aufklärung, es handle sich um eine Medienkampagne gegen die Kirche. Regelmäßig trifft er sich mit Betroffenen sexualisierter Gewalt. Die letzte Konsequenz bei der Aufarbeitung fehlt allerdings. Zwar bittet er um Entschuldigung und anerkennt eine Verantwortung der Kirche für Missbrauch und Vertuschung. Doch persönlich übernimmt er für eigene Fehler keine Verantwortung. Das zeigt sich zuletzt beim Umgang mit dem Münchner Gutachten zu Fällen sexualisierter Gewalt in seiner Zeit als Erzbischof von München und Freising.

Sein Pontifikat war neben dem Missbrauchsskandal von weiteren Krisen geprägt. Dazu gehören die Ereignisse rund um die Piusbruderschaft, Vatileaks oder die Regensburger Rede. Auf der anderen Seite steht sein Engagement für Religionsfreiheit, sein Versuch, die Gottesfrage in der Moderne wachzuhalten und in Europa eine Debatte über das Wertefundament des Kontinents anzustoßen, weil er aus Sicht Benedikts allein auf der Basis von Ökonomie keine Zukunft habe. Dazu seine zahlreichen Reisen, bei denen es ihm gelang, Massen zu mobilisieren bis hin zu den Jugendlichen bei den Weltjugendtagen in Köln, Sydney und Madrid. Spektakulär dann sein Rücktritt als Papst 2013. Damit hat er das Papstamt verändert, es entmystifiziert. Das war ein Akt für die Geschichtsbücher .

Zum Jubiläum Karsamstags-Stimmung

Wie sein Wirken insgesamt zu bewerten ist, darauf müssen die Historiker eine Antwort geben. Sicher ist, dass Ratzinger in allen seinen Funktionen und Stationen bis hin in seine Zeit als emeritierter Papst polarisiert. Vor der Welt verborgen wollte er diese Zeit verbringen. Nun meldet er sich regelmäßig zu Wort. Sei es über Interviewbücher, Änderungen von Textpassagen für die Gesammelten Schriften oder Aufsätze und Grußworte. Ein Nebenlehramt entsteht dadurch nicht. Doch die Kirche muss noch weiter lernen, damit umzugehen. Benedikt XVI. muss aufpassen, dass er nicht von seinen Anhängern instrumentalisiert wird. Das wurde zuletzt bei dem Hin und Her im Kontext des Münchner Gutachtens deutlich. Der Emeritus selbst hat mit seinem Rücktritt vom Papstamt dieses zwar ein Stück entmystifiziert; er selbst scheint aber weiter unfehlbar zu sein. Denn eigene Fehler einzugestehen, fiel ihm in der Vergangenheit schwer und das gilt offenbar bis heute.

Papst Franziskus besuchte Benedikt XVI. bereits am Mittwoch, um ihm die Glückwünsche zu seinem 95. Geburtstag zu überbringen. Besondere Feierlichkeiten sind keine vorgesehen, weder im Vatikan noch in der bayerischen Heimat. Nach den heftigen Diskussionen der vergangenen Wochen rund um das Münchner Missbrauchsgutachten scheinen alle Seiten darum bemüht, etwas Ruhe einkehren zu lassen und die Debatte um den Emeritus nicht noch weiter anzufachen. Statt großer Würdigungen eines Lebenswerks herrscht Stille. Karsamstag.

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Jürgen Erbacher

Seit Juli 2018 leite ich die ZDF-Redaktion "Kirche und Leben katholisch", für die ich seit 2005 über die Themen Papst, Vatikan, Theologie und katholische Kirche berichte. Dafür pendle ich regelmäßig zwischen Mainz und Rom - meiner zweiten Heimat. Dort habe ich vor meiner ZDF-Zeit mehrere Jahre gelebt und für Radio Vatikan gearbeitet. Studiert habe ich Politikwissenschaft und Katholische Theologie in Freiburg i.Br. und Rom.

5 Kommentare

  • Wanda
    16.04.2022, 15:01 Uhr.

    Das Wort „gerecht“ in Zusammenhang mit Josef Ratzinger ist wohl am wenigsten angebracht. Dieser Kirchenfürst hat jedenfalls gegenüber den Missbrauchsopfern keine Gerechtigkeit walten lassen und lässt sie immer noch nicht erkennen. Und viele Kommentare zu seinem 95. Geburtstag sprechen für sich. Er war und ist für viele Gläubige Anlass sich von der Institution Kirche zu entfernen.

  • Reimund Widera
    17.04.2022, 9:22 Uhr.

    Ich werde am 27.12.in diesem Jahr 85 Jahre.Die Behandlung der Mißbrauchsopfer wird durch die kat. Kirche sehr einseitg durchgeführt.Es ist schlimm, dass die Priester und andere Personen Kinder so Brutal mißhandelt haben.Warum werden diese Kinderschänder nicht von einem öffentlichen Gericht angeklagt.
    Der Vatkan ist eine Brutale Monarchi,es bestimmt nur eine Person „der Pabst“.Diese Personen die Kinder mißbraucht haben, werden vom Oberhaupt der Kirche nicht bestraft. Sie werden in eine andere Varrei versetzt und könne weiter Mißbräuche durchführen.Warum wird es vom Gestzgeber nicht geändert.

  • Erasmus
    17.04.2022, 16:48 Uhr.

    „Kein Kirchenmann hat die Geschicke der katholischen Kirche in den vergangenen Jahrzehnten so stark geprägt wie Joseph Ratzinger.“ (Erbacher)
    Ich bin mir nicht sicher, ob diese Aussage zutreffend ist. Für mich war die Enzyklika HUMANAE VITAE von 1968 (Verbot „künstlicher“ Empfängnisverhütung durch Paul VI.) das Fanal, das am Beginn der nachkonziliaren restaurativen Wende der Katholischen Kirche stand. Wer damals Paul VI. maßgeblich beeinflusste, war ein gewisser Karol Wojtyła, Erzbischof von Krakau, später JOHANNES PAUL II. Wie durchsetzungswillig Wojtyła war, zeigt sich exemplarisch daran, dass er die Denkschrift, in der er gegen die Empfängnisverhütung argumentierte, Papst Paul VI. in französischer Sprache – der Lieblingssprache des Papstes – zukommen ließ.
    Im Hinblick auf den Missbrauchsskandal, sehe ich die Rolle Ratzingers ausgesprochen skeptisch. Ob er die Bearbeitung der weltweit aufploppenden Fälle klerikaler sexueller Gewalt deshalb in Rom zentralisierte, „um sie lokaler Willkür zu entziehen und ein einheitliches Vorgehen zu erreichen“, halte ich für sehr fraglich. Meine Vermutung geht eher dahin, dass es darum ging, ein für die Kirche schädliches Phänomen unter KONTROLLE zu bekommen und in der VERSCHWIEGENHEITSSPHÄRE des Vatikans zu behandeln. Wirkliche Aufklärung würde vor Ort unter Einbeziehung der Staatsanwaltschaft stattfinden.
    Zudem ist der Bock als Gärtner reichlich ungeeignet. Als 2010 die öffentlichen Medien in der BRD in Sachen klerikaler Missbrauch recherchierten, interessierten sie sich insbesondere für die Erzdiözese München Freising. Denn hier war Benedikt XVI. von 1977 bis 1982 amtierender Erzbischof. Für mich ist eindeutig, dass Kardinal Ratzinger damals genauso VERTUSCHT hat wie seine Mitbischöfe auch, aber dass in seinem Fall alle Anstrengungen unternommen wurden, ihn aus dem Schussfeld zu nehmen. Das Konzept war, dass der im Jahr 2010 82-jährige, ehemalige Generalvikar Gerhard Gruber die gesamte Verantwortung auf sich nehmen sollte.
    Zu einer Würdigung Joseph Ratzingers gehört für mich auch der von Rom im Jahr 1999 erzwungene Ausstieg aus dem staatlichen System der Schwangerschaftskonfliktberatung. Die Deutsche Bischofskonferenz hatte sich 1992 stark in den parlamentarischen Neuregelungsprozess eingebracht und mit der Regierung Kohl ein Konzept entwickelt, das abtreibungswillige Frauen zu einer Beratung verpflichtete. Die Kirchen waren Teil des Beratungssystems und wirkten durch Unterstützungsangebote Abtreibungen entgegen. Der römische Kurs war hart und unnachgiebig, und das ist nicht das einzige Beispiel für Ratzingers machtbewusste RIGOROSITÄT.

  • Novalis
    18.04.2022, 9:01 Uhr.

    „holte den damaligen Bonner Moraltheologen“… Ratzinger war Fundamentaltheologe in Bonn.

    „Denn eigene Fehler einzugestehen, fiel ihm in der Vergangenheit schwer und das gilt offenbar bis heute.“

    Schwerfallen? Dieser Mann macht keine Fehler. Das glaubt der wirklich. Da kann man sich auch mal die Abschaffung der unreformierten Messe weglügen. Pädophilie in der Kirche – massivvorkommend schon vor 1960 – zum 68er-Problem zurechtlügen.
    Der Mann war schon immer ein Reaktionär und auch antisemtische Tendenzen sind ihm nicht fremd. Es gibt da NICHTS zu retten.

    • Jürgen Erbacher
      Jürgen Erbacher
      19.04.2022, 16:30 Uhr.

      Danke für den Hinweis. Ratzinger war Fundamentaltheologe. Wurde im Text entsprechend korrigiert.

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