Rekord bei Kirchenaustritten

Einmal mehr verzeichnen katholische und evangelische Kirche in Deutschland einen neuen Rekord bei den Austrittszahlen. 2014 traten so viele Katholiken aus der Kirche aus wie noch nie: 217.716. Von der evangelischen Kirche liegen noch keine Austrittszahlen vor. Laut EKD verzeichnete die evangelische Kirche 2014 aber einen Rückgang von 410.000 Mitgliedern*. Das geht aus Erklärungen der Deutschen Bischofskonferenz und der EKD von heute hervor. Die Zahlen sind dramatisch. Wie der Freiburger Erzbischof Stefan Burger sehen viele Bischöfe einen Grund für den starken Mitgliederschwund im neuen Einzugsverfahren der Kirchensteuer auf Kapitalerträge, das von vielen Menschen als Steuererhöhung missverstanden werde. Auch der Fall des Limburger Bischofs Franz-Peter Tebartz-van Elst, dessen Rücktritt Papst Franziskus im März 2014 angenommen hatte, wird als ein Grund genannt.

Mitglieder unzufrieden

Studien zeigen allerdings, dass die Menschen Ereignisse wie in Limburg oder das geänderte Kirchensteuerverfahren oft nur der Tropfen sind, der das Fass zum Überlaufen bringt. Eine Studie des Bistums Münster zeigte jüngst, dass es in vielen Fällen einen langen Entfremdungsprozess gibt. „Die Zufriedenheit mit der Institution Katholische Kirche ist aus Sicht der Gläubigen in einem kritischen Zustand“, heißt es in der Studie. Als Hauptgrund für einen Austritt geben in der Münsteraner Befragung 55 Prozent an, die Kirche sei „zu rückständig“. Die Kirchensteuer folgt auf Platz zwei mit knapp 40 Prozent. Immerhin 56 Prozent sagen aber auch, dass für sie ein Austritt nie infrage komme. Münster ist mit 1,9 Millionen Katholiken das drittgrößte Bistum in Deutschland. Die Ergebnisse der Studie dürften auch bundesweite Aussagekraft haben.

Ein Franziskus-Effekt ist damit in Deutschland noch lange nicht auszumachen. Den Bischöfen gelingt es nicht, den Schwung aus Rom an die Basis weiterzugeben. Reformen werden nur zögerlich angepackt. Die Seelsorgereformen haben in den letzten Jahren dazu geführt, dass die Pfarreien immer größer wurden, Kirche damit vor Ort immer weniger erfahrbar wird. Eine Kirche, die sich über Jahrzehnte sehr stark über Hauptamtliche, Kleriker und Laien definierte, und auch in der Krise des Kleruspersonals an der Fixierung und Letztverantwortung durch den Klerus festhält, ist für die Menschen vor Ort nicht mehr erfahrbar. Was ich nicht erfahre, auf das kann ich auch leichter verzichten. Daher müsste die katholische Kirche ihre Strategie überdenken.

Perspektivwechsel gefordert

Sicher hat auch der Wiener Pastoraltheologe Paul Michael Zulehner Recht, wenn er einen Perspektivwechsel anmahnt. Im Kölner Domradio stellte er fest, die Zeiten seien vorbei, wo die Menschen schicksalshaft der Kirche angehören mussten. „Wir rechnen von 100 Prozent herunter, wo wir aus einer Zeit kommen, wo Religion Schicksal war. In Zukunft sollten wir eher den Spieß umdrehen und sagen, wir rechnen von Null Prozent hinauf und könnten dann sagen, oh, es ist interessant, in vielen Ländern Europas sind so und so viele Leute sehr engagierte Christen.“ Trotzdem werden die Bischöfe nicht um grundlegende Reformen herumkommen. Dabei geht es nicht darum, die katholische Kirche zu „protestantisieren“. Dieser Begriff ist eh‘ ein Unwort, wird aber gerne sofort als Totschlagargument gebracht, wenn es um Reformen in der katholischen Kirche geht. Es geht vielmehr darum, die „Zeichen der Zeit“ zu deuten und mit Veränderungen zu reagieren, wie sie etwa durch das II. Vatikanische Konzil angestoßen wurden.

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Jürgen Erbacher

Seit Juli 2018 leite ich die ZDF-Redaktion "Kirche und Leben katholisch", für die ich seit 2005 über die Themen Papst, Vatikan, Theologie und katholische Kirche berichte. Dafür pendle ich regelmäßig zwischen Mainz und Rom - meiner zweiten Heimat. Dort habe ich vor meiner ZDF-Zeit mehrere Jahre gelebt und für Radio Vatikan gearbeitet. Studiert habe ich Politikwissenschaft und Katholische Theologie in Freiburg i.Br. und Rom.