Pflicht verletzt – und jetzt?

Die Veröffentlichung des Missbrauchsgutachtens im Erzbistum Köln hat ein kleines Erdbeben in der katholischen Kirche in Deutschland ausgelöst. Erzbischof Stefan Heße bat den Papst, ihn umgehen von seinen Aufgaben als Erzbischof von Hamburg zu entbinden, der Kölner Weihbischof Dominikus Schwaderlapp reichte ebenfalls seinen Rücktritt ein. Nun ist in diesen beiden Fällen der Papst am Zug. Auf den 800 Seiten werden den beiden Pflichtverletzungen in ihrer Zeit als Generalvikar und Personalchef des Erzbistums vorgeworfen. Das Gutachten bescheinigt auch Kardinal Joachim Meisner eine große Zahl an Pflichtverletzungen und offenbart ein Chaos in der Verwaltung und im Umgang mit Missbrauchsfällen.

Das Gutachten wiegt schwer. (Quelle: epa)

Woelki keine Pflichtverletzung nachgewiesen

Für Kardinal Rainer Maria Woelki war es nach eigenen Angaben heute der Tag, den er „herbeigesehnt und darauf hingearbeitet“ habe, den er aber auch „gefürchtet habe wie nichts anderes“. Dabei ging die Sache für ihn am Ende gut aus. Ihm konnte der Kölner Strafrechtler Björn Gercke mit seiner Mannschaft keine Pflichtverletzung nachweisen. Das verwundert viele Beobachter. Gibt es doch bei der Frage, ob Woelki 2015 einen Missbrauchsverdacht nach Rom hätte melden müssen, unterschiedliche Sichtweisen. Überrascht hat der Kölner Erzbischof bei der Vorstellung des Gutachtens mit der sofortigen Freistellung zweier hochrangiger Kirchenmänner, denen die Gutachter wiederholte Pflichtverletzungen vorwarfen: Weihbischof Schwaderlapp und der oberster Kirchenrechtler des Erzbistums, Offizial Günter Assenmacher.

Schwaderlapp erklärte „zu wenig und nicht systematisch und entschieden genug“ gehandelt zu haben. „Tiefer noch beschämt mich, zu wenig beachtet zu haben, wie verletzte Menschen empfinden, was sie brauchen und wie ihnen die Kirche begegnen muss.“ Das sei „ein Versagen als Seelsorger und als Mensch“. Erzbischof Heße erklärte am Abend, er habe sich „nie an Vertuschung beteiligt“. Er sei „dennoch bereit, meinen Teil der Verantwortung für das Versagen des Systems zu tragen“. Er bedaure sehr, „wenn ich durch mein Handeln bzw. mein Unterlassen Betroffenen und ihren Angehörigen neuerliches Leid zugefügt haben sollte“. Auch der langjährige Generalvikar des Erzbistums Köln, Norbert Feldhoff, zog erste Konsequenzen aus dem Vorwurf von 13 Pflichtverletzungen und legte sein Mandat im Priesterrat des Erzbistums Köln nieder.

Auch strukturelle Veränderungen nötig

Dabei wird es nicht bleiben können. Kardinal Woelki wird am kommenden Dienstag bei seiner Pressekonferenz zur Reaktion auf das Gutachten weitere Maßnahmen vorstellen müssen. Lange haben alle auf den heutigen Tag hingefiebert, jetzt müssen Konsequenzen folgen. Dabei ist die Übernahme persönlicher Verantwortung die eine Seite, die notwendigen strukturellen Veränderungen sind die andere. Auch wenn sich die 75 Pflichtverletzungen auf acht Personen konzentrieren, haben die Juristen dem Kardinal eine Liste „systemischer Ursachen“ mit ins Gutachten geschrieben sowie Handlungsempfehlungen. Als „systematisches Vertuschen“ wollte Strafrechtler Gercke das Vorgehen der Bistumsverantwortlichen nicht bezeichnen, allerdings sprach er von „systembedingter oder systeminhärenter Vertuschung“.

Genau diese Charakterisierung führt zu der Frage, ob der Missbrauch wirklich nur durch eine besser Aktenführung und eine Neuordnung der Zuständigkeiten verhindert werden kann oder ob es eben nicht doch systemische Ursachen gibt, wie sie die MHG-Studie bereits im Herbst 2018 offengelegt hat und sie nun in der Folge auch im Synodalen Weg bearbeitet werden. Dieser Reformprozess wird gerade vom Kölner Erzbischof kritisch gesehen. Das vorgelegte Gutachten fokussiert sich auf juristische Fragen, auf „Pflichtverletzungen von Diözesanverantwortlichen“. Es kann damit nur ein weiterer Baustein in einem umfassenderen Prozess der Aufarbeitung des Missbrauchs in der katholischen Kirche in Deutschland sein. Es werden auch in Köln weitere Gutachten und Studien folgen müssen. Denn am Ende braucht es eine multiperspektivische Aufarbeitung, an der Historiker, Theologen, Psychologen und Soziologen genauso beteiligt sind wie Juristen und Experten anderer Fachrichtungen.

Warum keine unabhängige Aufarbeitung?

Bleibt die Frage nach der Unabhängigkeit der Studie. Die Gutachter haben sich allein auf Aktenmaterial gestützt und persönliche Gespräche mit den ehemals und aktuellen Verantwortlichen. Es gab nach Aussage von Professor Gercke eine „Vollständigkeitserklärung“ des Erzbischofs die Akten betreffend. Darauf müssen sich die Juristen verlassen. Das wäre auch im Fall einer unabhängigen Aufarbeitung durch eine staatliche Stelle nicht anders. Dennoch bleibt immer ein Beigeschmack, wenn der Auftraggeber selbst Objekt der Begutachtung ist. Das wäre bei einer unabhängigen staatlichen Aufarbeitungskommission anders. Warum sich die Politik in Deutschland dazu nicht durchringen kann, bleibt ein Rätsel. Österreich, Irland, Australien und zahlreiche US-Bundesstaaten könnten als Beispiele dienen.

Die Veröffentlichung des Kölner Gutachtens ist sicherlich ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Durch die Debatte um das vor einem Jahr nicht veröffentlichte erste Gutachten ist für die katholische Kirche ein großer Schaden entstanden. Ab nächsten Donnerstag können Interessierte das erste Gutachten einsehen. Dann wird man bewerten können, ob es das wert war. Dem Kölner Kardinal verschafft der heutige Tag etwas Luft. Dass er den Turnaround schafft, ist längst noch nicht ausgemacht. Die Blicke richten sich jetzt zudem nach Rom. Wenn der Papst zu lange zögert, wird weiterer Schaden entstehen. Für die katholische Kirche in Deutschland bedeutet das, dass ruhigere Fahrwasser noch lange nicht in Sicht sind.

Link zur Internetseite des Erzbistums Köln mit dem Gutachten.

Weitere Infos zudem bei ZDFheute.

Die Pressekonferenz zum Nachschauen hier bei ZDFheute.

Persönliche Erklärung von Erzbischof Stefan Heße.

Autorenbild

Jürgen Erbacher

Seit Juli 2018 leite ich die ZDF-Redaktion "Kirche und Leben katholisch", für die ich seit 2005 über die Themen Papst, Vatikan, Theologie und katholische Kirche berichte. Dafür pendle ich regelmäßig zwischen Mainz und Rom - meiner zweiten Heimat. Dort habe ich vor meiner ZDF-Zeit mehrere Jahre gelebt und für Radio Vatikan gearbeitet. Studiert habe ich Politikwissenschaft und Katholische Theologie in Freiburg i.Br. und Rom.

6 Kommentare

  • Silberdistel
    18.03.2021, 20:35 Uhr.

    Der Tod! Den uns jede/r einmal am Ende des Lebens ereilen wird! ER hält nicht still, sogar im Leben. Indem ER jede Entwicklung – die allenthalben als richtig, allenthalben als notwendig, allenthalben als völlig überflüssig, – einmal beenden will. Früher mal so in der Kirche durchaus ganz präsent präsent gewesen, sogar in Kunstobjekten.
    Schluss mit Lustig!! Schluss mit dem was dekadent, was unchristlich, was satanisch, ist!!! Endlch Schluss damit.

  • Maria
    18.03.2021, 20:39 Uhr.

    Missbrauch hat immer mit Macht zu tun: in Familien, in Vereinen, und auch in der Kirche.
    Dahinter steckt sicher auch eine systemische Ursache, aber auch – oder vielleicht vor allem – eine Frage der inneren Einstellung. Und genau an deren Änderung arbeitet P. Franziskus seit dem 1. Tag seines Pontifikats – flankiert von viel Gegenwind.
    Dass „die wahre Macht der Dienst“ ist haben noch nicht alle begriffen. Doch ohne Änderung der inneren Einstellung laufen m.E. viele Strukturreformen ins Leere.

    • Wanda
      18.03.2021, 22:04 Uhr.

      Maria 18.03 20:30
      – Franziskus arbeitet für Sie tatsächlich erkennbar an deren Änderung ? Der neu erfolgte Querschuss der Glaubenkongregation mit seiner Billigung zeigt mir eher einen „Ich-weiss-noch-nicht-wo-ich stehe-Franziskus“, und das zum wiederholten Male.
      Ein Papst weder Fisch noch Fleisch…

      • Novalis
        19.03.2021, 18:49 Uhr.

        Und genauso muss er sein. Er muss verschiedene Leute zusammenführen. Er hat das Amt der Einheit. Sein Vorgänger, an den man sich gottlob nur noch wegen seiner braunen Ausführungen zur Verblendung der Juden, der Rehabilitation eines Holocaustleugners, der maximalen Homophobie bei maximalen Betroffensein von Tuntigkeit und der Verharmlosung von Kindesmissbrauch erinnert, war Spalter genug.
        BTW: Warum wohl hat Kardinal Marx seine eigene Studie im Giftschrank? Die Münchener könnten da schon lange was veröffentlichen! Wenn ein Kardinal Ratzinger so tadellos war, dann könnte man das ja veröffentlichen.

        • Wanda
          23.03.2021, 16:28 Uhr.

          @Novalis 19.03.19:48
          – genauso, weder Fisch noch Fleisch, muss er sein ? Jemand hat deutlich verlangt: „Eure Rede sei ja, ja; nein, nein. Was aber darüber ist, das ist vom Übel.“ Matthäus 5:37. Nun, Franziskus kann anscheinend Ja und Nein gleichzeitig sagen, das ist seine Unwägbarkeit: prescht er mal mit einer Äusserung vor, fangen ihn seine „Berater“ mit ihren Interpretationen wieder ein. Er weckt Hoffnungen und macht sie gleichzeitig wieder zunichte. Zuweilen fällt mir dann Karl Valentin ein „Mögen hätten wir schon gewollt, aber dürfen haben wir uns nicht getraut“. Ist zwar nicht aus der Bibel, trifft aber das Kernproblem dieses Papstes.

  • Erasmus
    19.03.2021, 2:45 Uhr.

    „… ging die Sache für ihn am Ende gut aus. Ihm konnte der Kölner Strafrechtler Björn Gercke mit seiner Mannschaft keine Pflichtverletzung nachweisen.“
    Man könnte sagen, Woelki hat die Sache gut eingefädelt, so dass sie den gewünschten Ausgang nahm. Ich habe da ein paar FRAGEN:
    Ist es glaubwürdig, dass Woelki das erste Gutachten angeblich nicht gelesen hat, aber ein weiteres Gutachten in Auftrag gegeben hat?
    Was ist von einem Bischof zu halten, der mit Kirchengeldern eine ganze Armada von teuren Top-Anwälten alimentiert?
    – Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl
    – Strafrechtskanzlei Gercke Wollschläger
    – Expertise von Prof. Dr. Franz Streng und Prof. Dr. Matthias Jahn
    – Dr. Carsten Brennecke aus der Kanzlei Höcker (Presserecht). Mandanten von Ralf Höcker waren Recep Tayyip Erdoğan und die AfD
    – Gernot Lehr von der Anwaltssozietät Redeker Sellner Dahs (Presserecht)
    War das nur ein Fehler, dass der Kardinal zielgerichtet Betroffene instrumentalisiert hat, um seiner Entscheidung, ein zweites Gutachten anfertigen zu lassen, mehr Legitimität zu verleihen?
    Ein Kommentator sprach heute von dem „SYSTEM MEISNER“. War Woelki, der von 1990 bis 1997 Erzbischöflicher Kaplan und Geheimsekretär von Joachim Kardinal Meisner war, nicht auch Teil dieses Systems?
    Was den Fall des Düsseldorfer Pfarrers […]* O […]* anbetrifft, mit dem Woelki seit den 1980er Jahren befreundet war, stellt sich nicht nur die Frage, ob Woelki 2015 der Glaubenskongregation hätte Meldung erstatten müssen.
    Im Jahr 2011 hatte ein Mann, der als Kindergartenkind Ende der 1970er Jahre Opfer von sexualisierter Gewalt durch Pfarrer O […]* geworden war, vom Erzbistum die Summe von 15.000 EUR erhalten. Aus der Tatsache, dass der Höchstbetrag zur Abfindung von Geschädigten seinerzeit üblicherweise bei 5000 Euro lag, lässt sich schließen, dass die Täterschaft von O[…]* außer Frage stand.
    Wie ist es einzuschätzen, dass sich Woelki 2012 – also ein Jahr später – von […] O […]* zu seiner Kardinalserhebung nach Rom begleiten ließ?

    *Der Beitrag wegen des Verstoßes gegen die Netiquette editiert.

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