Dilexit nos – das geistliche Vermächtnis

„Es fehlt das Herz“, schreibt Papst Franziskus in seiner neuen Enzyklika – und zwar in der Welt, aber auch in der Kirche. Allerdings geht es bei dem knapp 80-seitigen Schreiben weniger um gesellschaftliche und politische Fragen. Der Pontifex setzt grundsätzlicher an. In „Dilexit nos – er hat uns geliebt“ schreibt er über die menschliche und göttliche Liebe des Herzens Jesu Christi. Diese Liebe ist es, die im Zentrum des Wirkens des Papstes steht. Sie ist gleichsam ein Synonym für die Barmherzigkeit Gottes, von der Franziskus von Anbeginn des Pontifikats an immer wieder spricht. Ziel des Menschen sei es, die Liebe Christi, für die das Herz stehe, im eigenen Leben umzusetzen. „Letztlich ist der Schlüssel für unsere Antwort auf die Liebe des Herzens Christi die Nächstenliebe“, schreibt Franziskus.

Das Herz Jesu als Ort der Liebe und Barmherzigkeit Gottes entdecken. Darum geht es Papst Franziskus in seiner neuen Enzyklika. (Foto: epa)

Das vergessene Herz

Das Herz Christi als Schlüssel für das Verständnis, was das Menschsein und das Christentum ausmacht. Dieser Gedanke ist für viele Menschen in der heutigen Zeit sicher nicht leicht nachzuvollziehen. Der Papst versucht es in der vorliegenden Enzyklika dennoch, ausgehend von dem Gedanken, dass das Herz der Ort ist, „wo in jedem Menschen, gleich welcher Herkunft und Lebensbedingung, alles zusammenkommt, wo all die anderen Kräfte, Überzeugungen, Leidenschaften und Entscheidungen der konkreten Menschen entspringen und verwurzelt sind“. Gerade in einer Welt, die von Unruhe, Konflikten und Konsumorientierung geprägt sei, müsse sich der Mensch wieder auf das Herz besinnen. „In der heutigen Gesellschaft läuft der Mensch Gefahr, den Mittelpunkt, seine eigene Mitte zu verlieren‘“, mahnt Franziskus mit den Worten seines Vorgängers Johannes Paul II.

Franziskus sieht es als Problem, dass dem Herzen in Anthropologie und Philosophie wenig Bedeutung beigemessen worden sei. Man habe lieber über Vernunft, Wille oder Freiheit nachgedacht. Vielleicht, so Franziskus, weil es so schwer zu fassen sei. „Tatsächlich kann das Wort ‚Herz‘ weder von der Biologie, noch von der Psychologie, noch von der Anthropologie oder sonst einer Wissenschaft erschöpfend erklärt werden.“ Für den Papst macht das Herz letztlich das Ich einer jeden Person aus. „Man könnte sagen, dass ich letztlich mein Herz bin, denn es ist das, was mich ausmacht, was mich in meiner geistigen Identität prägt und mich mit den anderen Menschen verbindet.“

Herz als Synonym für Liebe und Barmherzigkeit

Das Herz Jesu wiederum stehe für all die Worte und Taten, die Jesu Wirken ausmachten. Die Kirche habe das Bild des Herzens gewählt, „um die menschliche und göttliche Liebe Jesu Christi und den innersten Wesenskern seiner Person darzustellen“. In diesem Sinne müsse dann auch die Verehrung des Herzens Jesu verstanden werden. Einerseits betont Franziskus, dass nicht jeder jeden einzelnen Aspekt dieser Verehrung annehmen müsse und das sich diese in der Geschichte sehr unterschiedlich gezeigt habe. Zugleich warnt er vor einer Abwertung der Volksfrömmigkeit.

Das Herz Jesu ist für Franziskus ein Synonym für die Liebe und Barmherzigkeit Gottes. An mehreren Stellen kritisiert der Papst eine „moralistische Haltung“ und eine „Religiosität der bloßen Pflichterfüllung“, die dem Gedanken des Herzens Jesu entgegenstünden. Dazu gehört aus seiner Sicht auch noch eine andere Haltung, nämlich die „der Gemeinschaften und Hirten, die sich nur auf äußere Aktivitäten konzentrieren, auf strukturelle Reformen, die nichts mit dem Evangelium zu tun haben, auf zwanghaftes Organisieren, auf weltliche Projekte, auf säkularisiertes Denken, auf verschiedene Vorschläge, die als Erfordernisse dargestellt werden und die man bisweilen allen aufdrängen will“.

Wenn das Herz fehlt

Franziskus bezieht sich nicht nur auf innerkirchliche Fragen. Immer wieder sieht er das „fehlende Herz“ auch als Ursache für die Spannungen und Unruhen in der Welt. „Das Anti-Herz ist eine Gesellschaft, die zunehmend von Narzissmus und Selbstbezogenheit beherrscht wird“, so Franziskus. Er beklagt Gleichgültigkeit und Empathielosigkeit in der Welt, Kriege, das sozioökonomische Ungleichgewicht sowie Konsumismus und den menschenfeindlichen Einsatz von Technologie. „Heute ist alles käuflich und bezahlbar, und es scheint, dass Sinn und Würde von Dingen abhängen, die man durch die Macht des Geldes erwirbt. Wir werden getrieben, nur anzuhäufen, zu konsumieren und uns abzulenken, gefangen in einem entwürdigenden System, das uns nicht erlaubt, über unsere unmittelbaren und armseligen Bedürfnisse hinauszusehen.“ Die Liebe Christi stehe außerhalb dieses abartigen Räderwerks, “er ist in der Lage, dieser Erde ein Herz zu verleihen und die Liebe neu zu beleben, wo wir meinen, die Fähigkeit zu lieben sei für immer tot“, ist Franziskus überzeugt.

Die Enzyklika kann helfen, Franziskus besser zu verstehen. Hier legt er dar, warum er gegen Moralismus und Rigorismus ankämpft. Er zeigt immer wieder die Offenheit, dass nicht jeder jeden Frömmigkeitsstil voll und ganz mittragen muss. „Jeder erfüllt sie [die Hingabe an die barmherzige Liebe Gottes] auf seine Weise, und du wirst erkennen, wie du Missionar bzw. Missionarin sein kannst“, macht er zum Ende der Enzyklika den Lesenden Mut. Ein Glaubender und auch eine Kirche, die von der Liebe des Herzens Jesu erfüllt ist, ist zwangsläufig missionarisch, bis hin auch zu einem sozialen und politischen Engagement.

Vom Herz zur Mission

Das christliche Lebensmodell sei nur attraktiv, wenn es ganzheitlich gelebt und zum Ausdruck gebracht werden könne: nicht als bloße Zuflucht in religiöse Empfindungen oder in prunkvolle Rituale, lautet Franziskus‘ Credo. „Was wäre das für ein Dienst an Christus, wenn wir uns mit einer individuellen Beziehung begnügen würden, ohne Interesse daran, den anderen zu helfen, so dass sie weniger leiden und besser leben? Wird es dem Herzen, das so sehr liebte, etwa gefallen, wenn wir in einer innerlichen religiösen Erfahrung ohne geschwisterliche und soziale Auswirkungen verharren?“ Mission ist für Franziskus in diesem Sinn „ein Ausstrahlen der Liebe des Herzens Christi“. Dabei solle man sich nicht mit zweitrangigen Themen aufhalten oder damit, Wahrheiten und Regeln aufzuerlegen.

Es ist ein frommer Text, den Franziskus mit „Dilexit nos“ vorlegt. Er steht quer zu seinen vielen politischen und sozialen Texten. Er geht zurück zum Fundament, als habe Franziskus den Eindruck, er müsse noch einmal am Anfang beginnen und erklären, was ihn bewegt, wie er den christlichen Glauben sieht und warum er solchen Wert auf das sich Kümmern um den Nächsten legt, warum er die Barmherzigkeit so ins Zentrum seiner Botschaft stellt und eine liebende Kirche für alle will. In diesem Sinn kann der Text helfen, ihn zu verstehen. Doch Franziskus muss dann auch den Mut aufbringen, selbst Konsequenzen daraus zu ziehen und seine Kirche so umgestalten, dass sie als eine Kirche für alle, als eine Kirche der Liebe wahrgenommen werden kann. Dazu braucht es Reformen, die aktuell auch bei der Weltsynode diskutiert werden. Alle warten nun gespannt, ob Franziskus seinen Worten auch Taten folgen lässt.

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Jürgen Erbacher

Seit Juli 2018 leite ich die ZDF-Redaktion "Kirche und Leben katholisch", für die ich seit 2005 über die Themen Papst, Vatikan, Theologie und katholische Kirche berichte. Dafür pendle ich regelmäßig zwischen Mainz und Rom - meiner zweiten Heimat. Dort habe ich vor meiner ZDF-Zeit mehrere Jahre gelebt und für Radio Vatikan gearbeitet. Studiert habe ich Politikwissenschaft und Katholische Theologie in Freiburg i.Br. und Rom.

4 Kommentare

  • Silvia
    24.10.2024, 23:00 Uhr.

    Dass Papst Franziskus seinen Worten Taten folgen lässt, darauf warte ich schon seit Beginn seines Pontifikats.

    Was dieses neue Enzyklika angeht, so scheint sie mir nach Sprache und Inhalt eher ins 19. als ins 21. Jahrhundert zu passen.

    Es wäre ein großer Fortschritt, wenn sich der Klerus bis hinauf zum Papst einer allgemein verständlichen Sprache bedienen würde. Das gilt insbesondere auch für aus Rom kommende Dokumente.

    • Novalis
      25.10.2024, 20:00 Uhr.

      „Anstatt nach oberflächliche Befriedigungen zu suchen und den anderen etwas vorzuspielen, ist es besser, wichtige Fragen aufkommen zu lassen: wer bin ich wirklich, was suche ich, welchen Sinn will ich meinem Leben, meinen Entscheidungen oder meinen Handlungen geben; warum und wozu bin ich auf dieser Welt, wie will ich mein Leben bewerten, wenn es zu Ende geht, welchen Sinn will ich allem, was ich erlebe, geben, wer will ich vor den anderen sein, wer bin ich vor Gott. Diese Fragen führen mich zu meinem Herzen.“

      „Es wäre ein großer Fortschritt, wenn sich der Klerus bis hinauf zum Papst einer allgemein verständlichen Sprache bedienen würde. Das gilt insbesondere auch für aus Rom kommende Dokumente.“

      Da hat halt jemand gleich gewusst, was in Dilexit nos steht, OHNE es vorher gelesen zu haben, hihi.

    • Wanda
      26.10.2024, 4:10 Uhr.

      in der Tat: einfach nur schwulstig „…ein Ausstrahlen der Liebe des Herzens Christi…“ Nach christlichem Glaube war Jesus menschgewordener Gott und nach dem was wir heute rechtb verläßlich wissen, ist unser Herz nicht das Organ von Gefühl und Empfindung sondern ein Wunderwerk von Motor für unseren Körper. „Wie das Gehirn die Seele macht“, eine hochinteressante Darstellung von Prof. Gerhard Roth, international renommierter Hirnforscher, Verhaltensphysiologe, Biologe und Philosoph, der wie folgt ausführte: „Wenn Glaube als individuell-subjektive Überzeugung oder Ahnung verstanden wird (woher sich diese auch immer speisen mögen), dann können Glaube und wissenschaftliche Vernunft wohl nebeneinander bestehen, weil sie unterschiedliche Geltungsbereiche haben.“ Dokumentierter Vortrag als Video unter oa. Titel abrufbar.

  • Wanda
    25.10.2024, 11:24 Uhr.

    Pardon, will kein Korinthenzähler sein, aber heisst es und meint der Papst „er hat uns geliebt“ oder „er liebt uns“ ? Ein doch wesentlicher Unterschied…

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