Franziskus: Heiliges Jahr muss Haltung grundlegend verändern

Papst Franziskus will die katholische Kirche auf Barmherzigkeit „bürsten“. So könnte man die Bulle kurz zusammenfassen, die er heute aus Anlass der offiziellen Verkündigung des Außerordentlichen Heiligen Jahres der Barmherzigkeit veröffentlicht hat. Dabei bedeutet Kirche jeden, sowohl jeden einzelnen Katholiken als auch die Institution als Ganze. Mit der Bulle „Misericordiae vultus – Das Antlitz der Barmherzigkeit“ legt der Pontifex eine Art kleine Enzyklika über die Barmherzigkeit vor. Der Text ist eine der programmatischsten Schriften des Pontifikats. Neben grundlegenden Gedanken zur Barmherzigkeit enthält er aber auch konkrete Aussagen, wie etwa die Aufforderung an Kriminelle und Korrupte, das Heilige Jahr zur Umkehr zu nutzen. (19) Beim Gottesdienst im Petersdom heute Abend erinnerte Franziskus noch einmal an das Schicksal der Christen, die wegen ihres Glaubens verfolgt werden. Und er stellte die Frage: Warum heute ein Heiliges Jahr der Barmherzigkeit? Seine Antwort: „Ganz einfach, weil die Kirche in dieser Zeit großer epochaler Veränderungen gerufen ist, die Zeichen der Gegenwart und Nähe Gottes vermehrt anzubieten. Dies ist nicht die Zeit für Ablenkung, sondern im Gegenteil, um wachsam zu bleiben und in uns die Fähigkeit, auf das Wesentliche zu schauen, wieder zu erwecken. Es ist die Zeit für die Kirche, den Sinn des Auftrags wieder neu zu entdecken, den der Herr ihr am Ostertag anvertraut hat: Zeichen und Werkzeug der Barmherzigkeit des Vaters zu sein (vgl. Joh 20,21-23).“

Barmherzigkeit nicht Strenge

25 Seiten, 25 Abschnitte konzentrierte Gedanken über die Barmherzigkeit sowie einige konkrete Hinweise über den Ablauf des Heiligen Jahres. Das ist die Bulle „Misericordiae vultus“. Franziskus gründet seine Gedanken vor allem in der Heiligen Schrift. Es gibt einige wenige Zitate der Kirchenväter sowie des II. Vatikanischen Konzils. Mit zwei Verweisen auf die Konzilspäpste Johannes XXIII. und Paul VI. zu Beginn der Bulle macht Franziskus deutlich, in welche Tradition er sich stellt. Er erinnert an die Worte Johannes XXIII. bei der Eröffnung des Konzils 193: „Heute dagegen möchte die Braut Christi [die Kirche] lieber das Heilmittel der Barmherzigkeit anwenden als die Waffen der Strenge“. Aus der Ansprache Pauls VI. zum Abschluss des Konzils zitiert er unter anderem die Worte: „Natürlich werden die Irrtümer abgelehnt, das verlangt die Pflicht zur Liebe und nicht weniger die Verpflichtung zur Wahrheit. Aber für die Menschen gibt es nur Ermutigung, Respekt und Liebe.“

Franziskus empfiehlt die Enzyklika „Dives in misericordia“ von Johannes Paul II. zur Lektüre. Interessanterweise findet sich kein Verweis auf die Enzyklika Benedikts XVI. „Deus caritas est“, die genau vor 10 Jahren erschienen ist und thematisch eigentlich sehr gut zur Barmherzigkeit passt. Die wenigen Zitate in der Bulle zeigen, hier legt Franziskus seine Gedanken vor, begründet aus der Bibel. Dieser Pontifex will eine radikale Rückbesinnung auf die Heilige Schrift und damit so manchen Ballast der Jahrhunderte abwerfen. Das wird einmal mehr deutlich. Und daher ist es umso verständlicher, dass je länger das Pontifikat dauert, die Widerstände umso größer werden.

Papst will grundlegenden Wandel

Denn es geht ihm nicht nur um eine kleine Kosmetik. Es geht auch nicht um kurzfristigen Aktionismus im Sinne von, „jetzt verkaufen wir `mal schnell all unseren Besitz und verteilen ihn unter den Armen“. Ihm geht es um eine grundsätzliche Haltungsänderung, die dann auch eine andere Kirche hervorbringt, eine arme Kirche für die Armen und an der Seite der Armen. Deshalb macht er auch deutlich, dass das Heilige Jahr neben spirituellen Elementen auch ganz klar eine sozialpolitische Dimension hat. Jeder einzelne und die Kirche als Ganze müsse Rechenschaft ablegen darüber, was sie konkret für die Armen und Ausgegrenzten getan haben. Er spricht von „leiblichen und geistlichen Werken der Barmherzigkeit“. (15)

Franziskus will mit seinen Worten und Taten überzeugen, nicht dekretieren. Denn er ist sich bewusst, wenn er der Kirche seine Sicht aufoktroyiert, werden die Veränderungen nicht nachhaltig sein, wird es gar zur offenen Rebellion und zum Schisma kommen. Das will er vermeiden. Daher ist es auch möglich, dass er am Ende mit seinem Projekt scheitert. Aber, und das zeigt nun das Heilige Jahr, Franziskus ist noch nicht am Ende. „Lassen wir uns in diesem Jubiläum von Gott überraschen“, schreibt er im letzten Abschnitt der Bulle. Und Franziskus ist ja für Überraschungen gut. In der Bulle erfindet Bergoglio sich und die Barmherzigkeit nicht neu. Er wiederholt an vielen Stellen frühere Aussagen, gleichsam als wolle er sagen: „Kapiert es doch endlich, Ihr Pharisäer und Schriftgelehrten des 21. Jahrhunderts! Jesus wollte etwas anderes!“

In diesem Sinn ist meines Erachtens der Abschnitt 20 der Bulle eine ganz entscheidende Stelle. Dort geht Franziskus einmal mehr auf den Gegensatz zwischen Pharisäern und Schriftgelehrten einerseits und Jesus andererseits ein. Jesus gehe über das Gesetz hinaus. „Dass er Gemeinschaft hat mit denen, die nach dem Gesetz Sünder sind, lässt verstehen, wie weit die Barmherzigkeit geht.“ Die Pharisäer und Schriftgelehrten hingegen „legten in ihrer Gesetzestreue den Menschen lediglich Lasten auf die Schultern, blendeten aber die Barmherzigkeit des Vaters aus.“ „Nicht die Beachtung des Gesetzes rettet, sondern der Glaube an Jesus Christus“, schreibt Franziskus mit Verweis auf den heiligen Paulus. Zuvor hatte er bereits im Zusammenhang mit den Gerichtsreden Jesu bei Matthäus geschrieben, die Barmherzigkeit sei nicht nur eine Eigenschaft des Handelns Gottes. „Sie wird vielmehr auch zum Kriterium, an dem man erkennt, wer wirklich seine Kinder sind.“

Vorschläge zur Gestaltung des Jubiläumsjahres

Das heilige Jahr soll nach Wunsch des Papstes in Rom und den Ortskirche gefeiert werden. In jeder Kathedralkirche soll es eine „Pforte der Barmherzigkeit“ geben. Das Jahr soll dabei helfen, „der Wert der Stille wiederzuentdecken, um das Wort, das an uns gerichtet ist, meditieren zu können“ (13). Das Pilgern als zentrales Element „soll ein Zeichen dafür sein, dass auch die Barmherzigkeit ein Ziel ist, zu dem es aufzubrechen gilt und das Einsatz und Opfer verlangt“. (14) Franziskus schlägt vor, die Österliche Bußzeit im Heiligen Jahr besonders zu begehen. Die Aktion „24 Stunden für den Herrn“, die seit zwei Jahren am Freitag und Samstag vor dem 4. Fastensonntag gefeiert wird, soll in den Teilkirchen verstärkt werden, so Franziskus. Und: Er will in der nächsten Fastenzeit „Missionare der Barmherzigkeit“ aussenden. Das sind Priester, die die Vollmacht haben werden, auch von den Sünden loszusprechen, die dem Apostolischen Stuhl vorbehalten sind.

Hier darf man gespannt sein, welchen Sinn diese Aktion haben wird. Denn bei diesen „besonderen“ Sünden handelt es sich um Dinge, die jetzt nicht gerade so häufig vorkommen wie die Profanierung der Eucharistischen Gestalten (can. 1367), die Gewalt gegen den Papst (can. 1370), die Absolution des Mittäters (Komplizen) bei einer Sünde gegen das sechste Gebot (can. 1378), die Bischofsweihe ohne Erlaubnis des Heiligen Stuhls (can. 1382) oder die Verletzung des Beichtgeheimnisses durch den Beichtvater (can. 1388).

Interessant ist, dass Franziskus eigens die interreligiöse Komponente der Barmherzigkeit erwähnt, die sowohl im Judentum als auch im Islam eine wichtige Rolle spielt. Er bringt seine Hoffnung zum Ausdruck, dass das Jubiläumsjahr „die Begegnung mit diesen Religionen und mit anderen ehrwürdigen religiösen Traditionen fördert“. Wie das Heilige Jahr in Rom konkret gefeiert wird, ist nach wie vor nicht bekannt. Klar ist, dass am 8. Dezember die Heilige Pforte am Petersdom geöffnet wird, und am Sonntag darauf an der Lateranbasilika. An den beiden anderen Papstbasiliken, Maria Maggiore und Sankt Paul vor den Mauern, soll dies dann später erfolgen.

Autorenbild

Jürgen Erbacher

Seit Juli 2018 leite ich die ZDF-Redaktion "Kirche und Leben katholisch", für die ich seit 2005 über die Themen Papst, Vatikan, Theologie und katholische Kirche berichte. Dafür pendle ich regelmäßig zwischen Mainz und Rom - meiner zweiten Heimat. Dort habe ich vor meiner ZDF-Zeit mehrere Jahre gelebt und für Radio Vatikan gearbeitet. Studiert habe ich Politikwissenschaft und Katholische Theologie in Freiburg i.Br. und Rom.