Papst macht „Großmutter Europa“ Mut
Hoffnung und Mut wollte Papst Franziskus bei seinem Blitzbesuch in Straßburg Europa machen. Doch er sparte auch nicht mit Kritik etwa an der europäischen Flüchtlingspolitik. Der Papst aus Argentinien zeichnete ein Bild von einem Europa, das seine Seele wieder finden müsse, das „den Gesamteindruck von Müdigkeit und der Alterung“ mache. Die beiden Reden vor dem EU-Parlament und dem Europarat fassen die zentralen Gedanken der katholischen Sozialethik zusammen. Sie gehören zu den programmatischsten Reden im Pontifikat von Papst Franziskus in Bezug auf Politik sowie das Verhältnis von Politik und Kirche. Europa dürfe sich nicht um die Wirtschaft drehen, vielmehr müsse der Mensch im Mittelpunkt stehen.
Mensch muss im Mittelpunkt stehen
Was Papst Franziskus von seiner Kirche fordert, das schreibt er auch der Politik ins Stammbuch: der Mensch muss im Mittelpunkt des Handelns stehen. Es gebe „immer noch zu viele Situationen, in denen Menschen wie Objekte behandelt werden, deren Empfängnis, Gestaltung und Brauchbarkeit man programmieren und sie dann wegwerfen kann, wenn sie nicht mehr nützlich sind, weil sie schwach, krank oder alt geworden sind“. Ausführlich äußerte sich Franziskus über die „Würde des Menschen“, zu der auch Meinungsfreiheit sowie die Religionsfreiheit gehörten. Die unveräußerlichen Rechte dürften nicht wirtschaftlichen Interessen geopfert werden.
Den Rechten des Einzelnen stünden aber auch Pflichten gegenüber, so Franziskus bei der Rede an die EU-Parlamentarier. Das Gemeinwohl müsse immer im Blick bleiben. Vor dem Europarat spricht Franziskus später von der „verantwortlichen Freiheit“. Franziskus geißelte „egoistische Lebensstile“ sowie den „hemmungslosen Konsumismus“ und eine „Wegwerf-Kultur“, die mit einer Gleichgültigkeit gegenüber den Ärmsten einhergehe. Klare Worte fand er beim Thema Flüchtlinge. „Man darf nicht hinnehmen, dass das Mittelmeer zu einem großen Friedhof wird!“ Hier kritisierte der Papst „das Fehlen gegenseitiger Unterstützung innerhalb der EU“. Dies führe zu „partikularistischen Lösungen“, die unter Umständen Sklavenarbeit sowie soziale Spannungen begünstigten und der Menschenwürde der Einwanderer nicht gerecht würden.
Interessant ist, dass Franziskus beim Thema Migration auch die Herkunftsländer in den Blick nimmt. Allerdings macht er auch das, mit einem Seitenhieb auf Europa. Dieses müsse den Herkunftsländern „bei der sozio-politischen Entwicklung und der Überwindung interner Konflikte – dem Hauptgrund dieses Phänomens – helfen, anstatt Politik der Eigeninteressen zu betreiben, die diese Konflikte steigert und nährt“. Zur Verantwortung der Regierenden und Machthaber in den Herkunftsländern schweigt Franziskus auch dieses Mal. Der Pontifex forderte eine neue Beschäftigungspolitik, die „der Arbeit wieder Würde verleiht“ und mehr Engagement für den Umweltschutz. Ähnlich wie sein Vorgänger Benedikt XVI. spricht er neben der Ökologie der Umwelt auch von einer Ökologie des Menschen.
Einheit in Verschiedenheit
Trotz viel Kritik, bei der Franziskus etwa auch das steigende Misstrauen vieler Bürger gegenüber den Institutionen benennt, geht es dem Papst darum, den Kontinent wachzurütteln. Letztendlich geht es um die Suche nach der verlorenen Identität Europas. Seine Lösung: den Menschen wieder in den Mittelpunkt stellen sowie die „transzendente Dimension des Lebens“ wiederentdecken. Dazu gehöre auch, gemäß dem Motto der EU, „Einheit in Verschiedenheit“ zu leben. Einheit bedeute nicht „politische, wirtschaftliche und kulturelle oder gedankliche Uniformität“. Franziskus sprach von einer „Dynamik von Einheit und Eigenart“, die auch notwendig sei, damit das demokratische System keinen Schaden nehme. In diesem Kontext warnte der Pontifex vor extremen Positionen: „die engelhaften Purismen, die Totalitarismen des Relativen, die geschichtswidrigen Fundamentalismen, die Ethizismen ohne Güte, die Intellektualismen ohne Weisheit“.
„Es braucht Gedächtnis, Mut und eine gesunde menschliche Zukunftsvision“, formulierte Franziskus in seiner Ansprache vor dem Europarat. Für den Pontifex ist ganz entscheidend, dass sich Europa seiner Wurzeln besinnt. Dazu kommen der Dialog der Kulturen, der Generationen und der Staaten. Die Kirche wolle dazu auch ihren Beitrag leisten, so Franziskus. Denn in diesem Kontext komme dem Christentum eine große Bedeutung zu. Franziskus, ganz in der Tradition seines Vorgängers Benedikt XVI., sind Vernunft und Glaube, Religion und Gesellschaft berufen, „einander zu erhellen, indem sie sich gegenseitig unterstützen und, falls nötig, sich wechselseitig von den ideologischen Extremismen zu läutern, in die sie fallen können“. Europa könne von einer „neu belebten Verbindung zwischen den beiden Bereichen nur Nutzen ziehen“. Das gelte für den Kampf gegen religiöse Fundamentalismen oder auch für die Debatte über heikle ethische Fragen wie beim Lebensschutz.
Warnung vor neuen Konflikten in Europa
In der Rede vor dem Europarat unterstrich Franziskus die friedensstiftende Wirkung der internationalen Organisationen, warnte zugleich aber vor einer „Kultur des Konflikts“, „die auf die Angst vor dem anderen, auf die Ausgrenzung dessen, der anders denkt oder lebt, ausgerichtet ist“. Der alte Kontinent habe unter verheerenden Kriegen gelitten und sehne sich nach Frieden; dennoch verfalle er „leicht den Versuchungen von einst“. Der Pontifex ging allerdings nicht auf konkrete Konflikte ein. In diesem Kontext kritisierte er einmal mehr den Waffenhandel.
Franziskus wollte mit seinem Besuch in Straßburg einem „müden und pessimistischen Europa“ Mut machen, zu alter Stärke zurückzufinden. Seine beiden Reden, die für franziskanische Verhältnisse ungewöhnlich lang waren, bieten dazu Anregungen sowie reichlich Stoff für entsprechende Diskussionen. In den Redetexten stellt sich Franziskus ganz deutlich in die Tradition seiner Vorgänger. Mehrfach zitiert er Paul VI., Johannes Paul II. und auch Benedikt XVI.. Damit zeigt er auch, dass er keinen Sonderweg geht, auch wenn seine Analyse in Teilen im typischen „franziskanischen Klartext“ formuliert ist. Es ist der Blick eines Nichteuropäers auf Europa, der um die geschichtliche Bedeutung dieses Kontinents weiß und ihm in einer Welt, die „weniger ‚eurozentristisch‘“ ist, aus der Identitätskrise helfen möchte.