Kirchenreform à la Franziskus
Es ist eine programmatische Schrift, eine Art Regierungserklärung von Papst Franziskus. Das Apostolische Schreiben „Evangelii Gaudium“ (Die Freude des Evangeliums), das heute veröffentlicht wurde. Papst Franziskus fordert darin einen neuen Stil der Evangelisierung, der die Menschen in ihrer konkreten Lebenssituation in den Mittelpunkt stellt. Scharf kritisiert er Auswüchse der globalen Wirtschaftsordnung. Säkularisierung, ein ideologischer Individualismus und ein hemmungsloses Konsumdenken hätten vielfach zu einer „geistigen Wüstenbildung“ geführt. Aufgabe der Kirche sei es, darauf neu zu reagieren und den Menschen die Frohe Botschaft zu verkünden. Franziskus fordert eine Reform der Kirche auf allen Ebenen und nimmt dabei das Papstamt nicht aus.
Die Verkündigung der Botschaft Jesu – das ist es, worum es Papst Franziskus in seinem Pontifikat geht. Alles andere muss sich dieser Sache unterordnen. Das wird in dem neuen Schreiben deutlich. Die Verkündigung und der einzelne Mensch stehen für den Papst im Mittelpunkt. Strukturen und Dogmen müssen sich diesem Primat unterordnen. Franziskus kritisiert in dem Dokument einen Funktionärskatholizismus ebenso wie diejenigen, die sich gerne als Vorzeigekatholiken gerierten.
Der Papst entfaltet seine Vorstellung einer offenen Kirche, die zu den Menschen geht und dabei vor allem die im Blick hat, die am Rande der Gesellschaft stehen. Dazu seien auch „kreative“ Methoden notwendig. „Mir ist eine ‚verbeulte‘ Kirche, die verletzt und beschmutzt ist, weil sie auf die Straßen hinausgegangen ist, lieber, als eine Kirche, die aufgrund ihrer Verschlossenheit und ihrer Bequemlichkeit, sich an die eigenen Sicherheiten zu klammern, krank ist.“ Dabei sieht er gerade die Laien in der Pflicht.
Einerseits bekräftigt Franziskus in seinem Schreiben katholische Positionen wie etwa das Nein zur Priesterweihe der Frau und den uneingeschränkten Schutz für das ungeborene Leben; andererseits betont er die Notwendigkeit für Veränderungen. Das gelte auch für das Papstamt, wo über eine Neuausrichtung nachgedacht werden müsse. Frauen müssten künftig mehr an Entscheidungen beteiligt werden. Die Kirche dürfe keine Angst haben, Bräuche oder kirchliche Normen, „die nicht zum Kern des Evangeliums gehören“, zu revidieren. An was er dabei konkret denkt, führt Franziskus nicht näher aus.
Für Franziskus ist klar, der christliche Glaube hat eine soziale Dimension. Er bekennt sich zum sozial-politischen Auftrag der Kirche, an der Veränderung ungerechter Strukturen aktiv mitzuarbeiten. Die vorrangige Option der Kirche gilt den Armen, so Franziskus. Er kritisiert eine Vergötterung des Geldes und verurteilt die ungleiche Verteilung von Reichtümern und Gütern in der Welt. Diese Ungerechtigkeit sieht er als eine der Hauptursachen für soziale Spannungen und Konflikte. „Solange die Probleme der Armen nicht von der Wurzel her gelöst werden, indem man auf die absolute Autonomie der Märkte und der Finanzspekulation verzichtet und die strukturellen Ursachen der Ungleichverteilung der Einkünfte in Angriff nimmt, werden sich die Probleme der Welt nicht lösen und kann letztlich überhaupt kein Problem gelöst werden.“
Auf 180 Seiten stellt Franziskus seine Idee von Kirche dar. Erarbeitet hat er diese Vision über den Sommer. Der Originaltext wurde in Spanisch verfasst und dann übersetzt. Wer das Pontifikat bisher aufmerksam verfolgt hat, für den sind viele Dinge bekannt. Doch hier sind sie noch einmal kompakt zusammengefasst und erhalten durch die Form des Apostolischen Schreibens eine gewisse Form lehramtlicher Autorität. Franziskus greift die „Propositiones“ der Synodenväter der Bischofssynode zur Neuevangelisierung vom Oktober 2012 auf. Darüber hinaus ist auffallend, dass Franziskus sehr oft Dokumente nationaler Bischofskonferenzen zitiert sowie das Abschlussdokument der lateinamerikanischen Bischofsversammlung von Aparecida (2007) Das war bisher bei päpstlichen Schreiben nicht so üblich. Es wurden Konzilien, Kirchenväter und natürlich Päpste zitiert; aber dass sich die oberste Hierarchieebene bei den unteren „bedient“, das ist neu.
Das dürfte auch damit zusammenhängen, dass Franziskus sich für eine „heilsame Dezentralisierung“ ausspricht. „Eine übertriebene Zentralisierung kompliziert das Leben der Kirche und ihre missionarische Dynamik, anstatt ihr zu helfen.“ Er glaube nicht, „dass man vom päpstlichen Lehramt eine endgültige oder vollständige Aussage zu allen Fragen erwarten muss, welche die Kirche und die Welt betreffen“. Der Papst dürfe die örtlichen Bischöfe nicht in der Bewertung aller Problemkreise ersetzen, die in ihren Gebieten auftauchen. Entsprechend fordert er eine Aufwertung der Bischofskonferenzen. Er möchte sie als eigene Subjekte mit konkreten Kompetenzen einschließlich einer „gewissen authentischen Lehrautorität“.
Ein erfrischender Stil, der in der Tonlage je nach Situation variiert. Gewohnt scharfe Worte bei der Kritik des aktuellen Wirtschaftssystems, das Franziskus „in der Wurzel ungerecht“ sieht. Er spricht von der Wirtschaft, „die tötet“. An anderer Stelle sind ganz leise Töne zu hören. Etwa bei der „demütigen Bitte“ an mehrheitlich muslimische Länder, den Christen die freie Religionsausübung zu gestatten. Franziskus erfindet die Kirche in diesem Dokument nicht neu. Das zeigen die zahlreichen Zitate etwa seiner Vorgänger Benedikt XVI., Johannes Paul II. und Paul VI. Dennoch versucht er einen Paradigmenwechsel. Er glaubt wohl, dass die Kirche sich selbst im Wege steht bei der Verkündigung der Botschaft Jesu. Deshalb muss sie sich neu aufstellen. Er will weg vom Bild einer Kirche der Gebote und Verbote, die sich bequem im Status Quo eingerichtet hat, hin zu einer dynamischen Kirche an der Seite der Menschen.
P.S. Interessant ist unter anderem der Passus in Abschnitt 47, in dem es um den Empfang der Sakramente geht. Das liest sich angesichts der Diskussionen um wiederverheiratete Geschiedene ganz interessant: „Alle können in irgendeiner Weise am kirchlichen Leben teilnehmen, alle können zur Gemeinschaft gehören, und auch die Türen der Sakramente dürften nicht aus irgendeinem beliebigen Grund geschlossen werden. Das gilt vor allem, wenn es sich um jenes Sakrament handelt, das „die Tür“ ist: die Taufe. Die Eucharistie ist, obwohl sie die Fülle des sakramentalen Lebens darstellt, nicht eine Belohnung für die Vollkommenen, sondern ein großzügiges Heilmittel und eine Nahrung für die Schwachen. Diese Überzeugungen haben auch pastorale Konsequenzen, und wir sind berufen, sie mit Besonnenheit und Wagemut in Betracht zu ziehen. Häufig verhalten wir uns wie Kontrolleure der Gnade und nicht wie ihre Förderer. Doch die Kirche ist keine Zollstation, sie ist das Vaterhaus, wo Platz ist für jeden mit seinem mühevollen Leben.“