Papst Leo XIV. und die Armut

Es ist ein klares Signal. Als Thema seines ersten großen Lehrschreibens hat Papst Leo XIV. die Armut gewählt, nicht ein theologisches Thema. Wobei bei genauer Lektüre des gut 50 Seiten umfassenden Dokuments mit dem Titel „Dilexi te – über die Liebe zu den Armen“ deutlich wird, dass es ein zutiefst biblisches Thema ist. Der Pontifex verortet die Pflicht zum Engagement für Arme und Ausgegrenzte sowie den Einsatz für eine Veränderung von Strukturen, die Armut, Ausgrenzung und Ungerechtigkeit begünstigen, im Wirken Jesu. Damit wandelt er auf den Spuren seines Vorgängers und macht deutlich, dass die Fokussierung auf Armut und die damit verwandten Themen unter Franziskus keine Eintagsfliege war oder dessen Sonderinteresse. Leo zeigt auch, dass die Armut und ihre Bekämpfung immer Bestandteil kirchlichen Handelns und der katholischen Soziallehre war. Doch er sieht wie Franziskus die Notwendigkeit, diesen Punkt noch einmal radikal ins Bewusstsein zu rufen und ins Zentrum des Handelns der Kirche sowie jedes einzelnen Christenmenschen zu stellen.

Das Engagement für die Armen liegt im Evangelium begründet. Papst Leo XIV. heute bei einem Gottesdienst auf dem Petersplatz. (Foto: epa)

Mehr Latino als Yankee

Ein Dutzend Mal kommt die Formulierung „vorrangige Option für die Armen“ in dem Dokument vor. Da klingelt es bei vielen Leserinnen und Lesern in den Ohren. Zwar gehört diese zur Tradition der katholischen Kirche, doch mit der Befreiungstheologie und den Bemühungen der Kirche Lateinamerikas, das II. Vatikanische Konzil auf dem Kontinent zu inkulturieren, bekamen diese Worte noch einmal eine besondere Bedeutung. Es ist in dem vorliegenden Dokument deutlich zu spüren, dass Papst Leo XIV. stark aus der Perspektive und den Erfahrungen seiner zweiten Heimat Peru denkt und weniger aus einer US-amerikanischen Perspektive. Laut Katholischer Nachrichtenagentur brachte es der Vatikanist der italienischen Tageszeitung „La Repubblica“, Iacopo Scaramuzzi, auf den Punkt mit der Bemerkung: „Das ist mehr Latino als Yankee.“

Entsprechend leicht geht Leo die Kapitalismuskritik seines Vorgängers über die Lippen. Er macht sich den Gedanken zu eigen, dass „die Diktatur einer Wirtschaft, die tötet,“ angeprangert werden müsse. Manche Beobachter sehen hier eine leichte Verlagerung der Perspektive. Franziskus hatte einerseits eine „Diktatur der Wirtschaft“ beklagt und andererseits erklärt, „diese Wirtschaft tötet“. In der Kombination, wie Leo sie gebraucht, kommt sie bei Franziskus nicht vor, obwohl es in „Dilexi te“ als Zitat erscheint und nahegelegt wird, dass es aus Evangelii gaudium stamme. Ganz gleich, wie das bewertet wird, bleibt die Kritik von Leo an denen, die glauben, dass ein freier Markt alles regeln könne. Diese Idee weist er entschieden zurück. „Manchmal werden auch pseudowissenschaftliche Kriterien herangezogen, wenn etwa gesagt wird, dass der freie Markt von selbst zur Lösung des Problems der Armut führen werde. Oder man optiert sogar für eine Seelsorge der sogenannten ‚Eliten‘ und behauptet, dass man, statt Zeit mit den Armen zu verschwenden, sich besser um die Reichen, Mächtigen und Berufstätigen kümmern sollte, um durch diese zu wirkungsvolleren Lösungen zu gelangen.“ Hinter solchen Argumenten sieht Leo eine Weltlichkeit, die dazu verleite, die Wirklichkeit mit oberflächlichen Kriterien zu betrachten.

Kritik an kirchlichen Kreisen

Das Dokument ist keine Enzyklika. Das heißt das Thema wird nicht in großer Tiefe behandelt. Es ist eine Exhortation und soll, getreu der Wortbedeutung, anspornen und ermutigen. Deshalb nimmt Leo auch alle Ebenen und Bereiche in den Blick. Er kritisiert, wie sein Vorgänger, die Gleichgültigkeit vieler Christinnen und Christen gegenüber Armen und Ausgegrenzten. Dabei hat er auch ganz bestimmte Gruppen in der Kirche im Blick, bei denen sich „ein mangelndes oder gar fehlendes Engagement für das Gemeinwohl der Gesellschaft und insbesondere für die Verteidigung und Förderung der Schwächsten und Benachteiligten feststellen [lässt]. Diesbezüglich ist daran zu erinnern, dass Religion, insbesondere die christliche, nicht auf den privaten Bereich beschränkt werden darf, so als ob die Gläubigen sich nicht auch um die Probleme der Zivilgesellschaft und die Ereignisse, die die Bürger betreffen, kümmern müssten“.

Interessant ist auch: Wie bereits erwähnt, findet sich eine große Nähe zur Befreiungstheologie und den großen Lateinamerika-Konferenzen von Medellín über Puebla bis Aparecida. Einmal zitiert Leo dann eines der Dokumente, mit denen die Glaubenskongregation 1984 scharf auf die Befreiungstheologie reagierte. Allerdings ist es genau eine solche Stelle aus der damaligen Erklärung, die eher eine Brücke zur Befreiungstheologie zu bauen sucht und die Gegner in die Pflicht nimmt: „Die Sorge um die Reinheit der Lehre geht nicht ohne die Bemühung, durch ein integrales theologales Leben die Antwort eines wirksamen Zeugnisses des Dienstes am Nächsten, besonders aber am Armen und Unterdrückten, zu geben.“ Das dürfte auch ganz im Sinne von Franziskus sein, der große Teile des vorliegenden Dokuments in den letzten Monaten seines Lebens ausarbeiten ließ. Leo machte es sich jetzt zu eigen und Veröffentlichte es mit einigen Änderungen. Wer was geschrieben hat, wollte einer der Ghostwriter des Papieres, Kardinal Michael Czerny, heute bei der Pressekonferenz zur Vorstellung nicht preisgeben. „Es ist 100 Prozent Franziskus und 100 Prozent Leo“, stellte er auf Nachfrage der Journalisten fest.

Gleichberechtigung der Frauen

Ein Punkt könnte Leo XIV. künftig noch Probleme bereiten. Wie sein Vorgänger bemängelt er, dass trotz mancher Fortschritte „die Gesellschaften auf der ganzen Erde noch lange nicht so organisiert [sind], dass sie klar widerspiegeln, dass die Frauen genau die gleiche Würde und die gleichen Rechte haben wie die Männer. Mit Worten behauptet man bestimmte Dinge, aber die Entscheidungen und die Wirklichkeit schreien eine andere Botschaft heraus, vor allem wenn man an die ärmsten Frauen denkt.“ Hier wird sich Leo fragen lassen müssen, wie es um Wort und Tat in der eigenen Kirche bestellt ist. Zuletzt hatte er in einem Interview, das Ende September veröffentlicht wurde, erklärt, dass er nicht vorhabe beim Thema Frauenweihe Änderungen vorzunehmen. Zugleich betonte er, dass es weiter ein Thema sein werde.

Das eben erwähnte Interview machte deutlich, dass von Leo XIV. bei innerkirchlichen Fragen keine schnellen Entscheidungen zu erwarten sind. Zugleich hat er keine Türen zugestoßen. Mit Blick auf soziale Fragen ist er klarer, wie das heutige Dokument zeigt. Jetzt warten alle schon auf die erste Enzyklika und gehen davon aus, dass sich der Pontifex mit KI beschäftigen werde. Bis es soweit ist, dürfte es noch eine Weile dauern. Vielleicht lohnt es sich, erst einmal das aktuelle Dokument genauer zu studieren und Impulse für jede und jeden Einzelnen, für die Arbeit der Kirche sowie der Politik daraus zu ziehen. Ansätze bieten sich reichlich.

P.S. Es gab heute auch einen Beitrag bei ZDFheute zum Thema. Bitte hier klicken.

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Jürgen Erbacher

Seit August 2024 leite ich die ZDF-Redaktion "Religion und Leben", in der die Redaktion "Kirche und Leben katholisch", deren Leiter ich seit Juli 2018 war, aufgegangen ist. Für das ZDF arbeite ich seit 2005 und berichte über Papst, Vatikan, Theologie und katholische Kirche. Dafür pendle ich regelmäßig zwischen Mainz und Rom - meiner zweiten Heimat. Dort habe ich vor meiner ZDF-Zeit mehrere Jahre gelebt und für Radio Vatikan gearbeitet. Studiert habe ich Politikwissenschaft und Katholische Theologie in Freiburg i.Br. und Rom.

5 Kommentare

  • Novalis
    09.10.2025, 17:56 Uhr.

    „Interessant ist, dass die Franziskusfans offenbar langsam unruhig werden.“ So hieß es hier jüngst. Ich war und bin angetan von Franziskus und ich war und bin überhaupt nicht unruhig. Gut gemacht, Papst Leo!

  • prospero
    09.10.2025, 22:48 Uhr.

    Es ist erfreulich, dass Leo XIV tatsächlich bereit zu sein scheint, den Weg seines Vorgängers weiter zu beschreiten. Man wird sehen, wie er das auch in anderen Fragen umsetzen wird. Zweifellos werden die „Traditionalisten“ mit diesem Dokument nicht sehr glücklich sein – man mag sich nur an ihre Begeisterung über das Ergebnis der Papstwahl erinnern. Vom neuen Papst erhoffte man sich eine radikale rückwärtsgerichtete Kehrtwendung, die entsprechend ihren Vorstellungen sobald als möglich erfolgen sollte. Offensichtlich hatten sie sich getäuscht – hatte Franziskus also doch recht, als er den „Amerikaner“ für seine Nachfolge empfahl ?

    • Novalis
      10.10.2025, 14:22 Uhr.

      Leo hat ein Dokument fortgeführt, dass Franziskus initiiert hatte. Ebenso hatte es Franziskus mit Lumen fidei gehalten. Beide wären dazu nicht verpflichtet gewesen. So hat Pius XII. den Entwurf der Enzyklika Humani generis unitas – die Verurteilung der nationalsozialistischen Rasselehre – nicht weitergeführt.
      Leo will also durchaus in Kontinuität zu Franziskus wahrgenommen werden, ganz bewusst offenbar im Bereich der Sozialethik. Das dürfte den Recht(sradikal)en in der Kirche bitter aufstoßen.

  • Silvia
    10.10.2025, 11:51 Uhr.

    Bei uns in Europa bekämpft man „die Armut“ nicht durch pauschale Wirtschafts – Kapitalismuskritik, da muss man genauer hinschauen.

    Wir in Deutschland hatten bisher einen gut funktionierenden Sozialstaat, dessen Basis die freie, soziale Marktwirtschaft war. Inzwischen stagniert hier die Wirtschaft und der Sozialstaat kommt an seine Grenzen.

    Als ehemalige Sozialarbeiterin, davon 3 Jahre beim Caritasverband, war und bin ich immer auf der Seite der „kleinen Leute“.

    Aber die kirchliche Realität bei uns sieht anders aus. Das Gemeindeleben wird von der einkommensstarken, oberen Mittelschicht beherrscht, Pfarrer und Bischöfe wohnen in großen Häusern, die sich keine normale Durchschnittsfamilie leisten kann. Bischöfe werden von Fahrern in dicken Autos herum kutschiert und sind noch nie mal mit dem Bus oder der S-Bahn gefahren und an den Haltestellen mit ganz normalen Menschen jeglicher Herkunft ins Gespräch gekommen.

    Das päpstliche Lehrschreiben ist gut gemeint, wird aber nichts ändern. Weder bei uns noch sonst wo in der Welt. Während Trump es offenbar geschafft hat, den Gazakrieg zu beenden und für die Freilassung der letzten Geiseln zu sorgen. Diese armen, geschundenen Menschen werden lange, intensive medizinische Behandlung brauchen, das kostet Geld, das irgendwo herkommen muss.

    • Novalis
      10.10.2025, 14:13 Uhr.

      „die freie, soziale Marktwirtschaft“. Nur am Rand die Korrektur eines sachlichen Missgriffs: Wir haben in Deutschland die soziale und eben nicht die freie Marktwirtschaft. Der freie Markt wird durch Staat und Gesellschaft eingehegt und reguliert, weil er nicht funktioniert bzw. verheerende Folgen für beide hätte. Das ist wahrlich nicht die schlechteste Konstruktion der Zeit zwischen Adenauer und Schmidt.

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