Warum gerade jetzt?

Warum tritt Benedikt XVI. jetzt zurück? Darüber wird rund um den Globus auch fünf Tage nach Bekanntgabe der Entscheidung heftig diskutiert. Es gibt viel Anerkennung für den Schritt; aber auch Kritik. Bis hinein ins Kardinalskollegium und die Führungsriege der römischen Kurie gibt es einzelne Vertreter, die den Amtsverzicht für einen großen Fehler halten. Sie sehen das Papstamt beschädigt. Der Schritt birgt aber auch eine große Chance. Es liegt an den Kardinälen und am Nachfolger Benedikts, aus dem Rücktritt etwas Positives für die Kirche zu machen.

Weltweit auf Seite 1 - der Amtsverzicht (dpa)

Aber warum jetzt? Klar ist, ein Rücktritt war für Benedikt XVI. nie ein Tabu. Im Juli 2010 hat er am Grab seines Vorgängers Coelestin V., der im 13. Jahrhundert freiwillig abdankte, sein Pallium abgelegt, eines der zentralen Zeichen seines Amts. Schon damals war klar: Wer Augen hat zu sehen, der sehe! In seinem Interviewbuch „Licht der Welt“ vom November 2011 sagt er ganz offen, dass ein Rücktritt vorstellbar und angebracht ist, wenn die Kräfte nicht mehr reichen. Sein damaliger Interviewer, der Journalist Peter Seewald, berichtet jetzt von seinem letzten Treffen mit Benedikt XVI. vor etwa 10 Wochen. Seewald arbeitet derzeit an einer Biografie über Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. und hatte im letzten Jahr mehrfach die Gelegenheit, mit ihm zu sprechen. In einem Artikel für das Nachrichtenmagazin Focus, der am Montag erscheint, berichtet Seewald nun über die Begegnungen. Auf die Frage, was von seinem Pontifikat noch zu erwarten sei, habe Benedikt XVI. geantwortet: „Von mir? Nicht mehr viel. Ich bin doch ein alter Mann. Die Kraft hört auf. Ich denke, das reicht aus, was ich gemacht habe.

Laut Fokus stammt diese Aussage vom Sommer (!) letzten Jahres. Da war für Benedikt XVI. die grundsätzliche Entscheidung für den Rücktritt schon gefallen; denn, wie hier schon berichtet, war für den Papst nach der Reise nach Mexiko und Kuba im März 2012 klar, dass das Amt zu strapaziös wird. Ein Rücktritt in 2012 kam für Ratzinger aber nicht in Frage. Im bereits zitierten Interviewbuch hatte er nämlich auch gesagt, dass er in schwierigen Zeiten nicht davonlaufen könne und wolle. Und 2012 war mit dem Vatikleaks-Skandal ein schwieriges Jahr. Nach den Prozessen und der Begnadigung des ehemaligen Butlers zum letzten Weihnachtsfest, war Krise fürs erste, zumindest in der Öffentlichkeit, überwunden. Dass der Vatileaks-Skandal nicht der Anlass für den Rücktritt war, behauptet nun Peter Seewald laut Fokus. Denn erstmals hatte der Papst mit einem Journalisten über das Thema gesprochen. Der Verrat habe ihn weder aus der Bahn geworfen noch amtsmüde gemacht. Es wäre „nicht so, dass ich irgendwie in eine Art Verzweiflung oder Weltschmerz verfallen würde. Es ist mir einfach unverständlich.“ So zitiert Seewald den Papst mit Blick auf die Taten des ehemaligen Kammerdieners Paolo Gabriele. Benedikt sei wichtig gewesen, dass die Justiz im Vatikan unabhängig arbeitete.

Das Gespräch mit Seewald über Vatileaks fand im Sommer statt. Am 17. Dezember traf der Papst die dreiköpfige Kardinalskommission, die er parallel zur vatikanischen Justiz mit Untersuchungen beauftragt hatte. Die Kardinäle sollen Benedikt XVI. einen zweiten Untersuchungsbericht übergeben haben. Er wurde, wie schon der erste vom Sommer 2012, nie veröffentlicht. Doch dem Vernehmen nach sollen darin erschütternde Informationen über Machenschaften und die Verhältnisse im Vatikan enthalten sein. War dieser Bericht der Auslöser für Benedikt, möglichst bald zurückzutreten? Musste er erkennen, dass seine Kraft nicht mehr für ein Aufräumen in der Kurie reicht? Mehr als Spekulation bleibt das nicht.

Fest steht, der Rücktritt wurde zum Ende des vergangenen Jahres konkreter. Als im Herbst die Schwestern des Karmel im Vatikan turnusgemäß das Kloster verließen, rückten keine neuen Ordensfrauen nach. Mit der Begründung, man müsse das Haus für Kardinäle herrichten, begannen die Umbauarbeiten. Es ist davon auszugehen, dass Benedikt XVI. Ende April/Anfang Mai in den endgültigen Altersruhesitz hinter der Apsis von Sankt Peter wird einziehen können.

Fest steht auch, dass der Terminkalender für 2013 von Anfang an schlank gehalten wurde. Es gab keine Reisen, außer dem Weltjugendtag in Rio de Janeiro. Doch immer wenn Benedikt XVI. die Jugendlichen zu diesem Treffen einlud, hat er stets vermieden, von seiner eigenen möglichen Präsens zu sprechen. Man war zwar wie selbstverständlich davon ausgegangen; doch Ratzinger hielt sich zurück. Ende November konnte man im Vatikan hören, dass man nicht davon ausgehen solle, dass Benedikt XVI. noch einmal eine lange Flugreise machen werde. Wer Ohren hat zu hören, der konnte damals hören. Doch die Anwesenden wollten oder konnten es nicht hören.

Fest steht auch, dass Benedikt XVI. mit der Ernennung seines Privatsekretärs Georg Gänswein Anfang Dezember zum Präfekten des Päpstlichen Hauses und der damit verbundenen Erhebung in den Rang eines Erzbischofs für die Zukunft seines engsten und treuesten Mitarbeiter gesorgt hat. Der Posten des Präfekten wurde durch die Beförderung James M. Harveys zum Kardinal und Erzpriester der Basilika St. Paul vor den Mauern im Konsistorium Ende November 2012 freigemacht.

Fest steht auch, dass die Kräfte Benedikt XVI. weiter abnahmen. Das ist ganz natürlich – mit weit über 85 Jahren, dem Arbeitspensum und vor allem der Verantwortung, die der Papst zu tragen hat.

Ein Rücktritt im Verlauf des Jahres hätte also nicht unbedingt überrascht – etwa zum 86. Geburtstag am 16. April. Dann wäre auch noch die Glaubensenzyklika erschienen, die man für März erwartet hatte. Eigentlich war sie vor Weihnachten schon fertig. Jetzt kommt sie gar nicht mehr, warum?

Warum gerade jetzt? Passte der Gedenktag der Muttergottes von Lourdes am 11. Februar gut als Tag für die öffentliche Ankündigung des Amtsverzichts, eines Rücktritts, weil die „Kraft des Körpers und des Geistes“ derart abgenommen hat, dass es nicht mehr reicht, das „Schifflein Petri zu steuern“? Interessant finde ich hier übrigens, dass er auch von der abnehmenden Kraft des Geistes spricht!? Passte vielleicht die Fastenzeit gut für die Suche nach einem neuen Nachfolger Petri? Als Zeit, in der die Kirche durch die Kardinäle in den Kardinalsversammlungen und dem Konklave eine Selbstvergewisserung betreibt? Buße tut? In der Predigt bei seinem letzten großen öffentlichen Gottesdienst am Aschermittwoch sprach Benedikt XVI. nicht über die Gesellschaft oder die Welt, gar den von ihm gerne bemühten Relativismus. Es ging um die Kirche! Er verurteilte Individualismen und Rivalitäten. Ist das sein schmerzliches Fazit nach knapp acht Jahren Papst?

Wollte Benedikt XVI. sich die Strapazen der anstrengenden Osterfeierlichkeiten ersparen? Pressesprecher Federico Lombardi erklärte, die Zeit nach Ostern sei eine pastoral sehr intensive Zeit für die Kardinäle in aller Welt. Da wäre ein Konklave ungelegener gekommen als jetzt vor Ostern.

Fest steht, der Rücktritt wäre auch zu einem anderen Zeitpunkt ungelegen gekommen und es hätte Diskussionen gegeben über das „warum gerade jetzt“. Wichtig ist das Faktum. Benedikt XVI. hat sich nicht von Unglückspropheten abhalten lassen, die in der Vergangenheit angesichts eines möglichen Amtsverzichts des Papstes vor negativen Konsequenzen wie einem Schisma warnten. Als Theologe ist er sich sicherlich auch bewusst, was sein Schritt für das Papstamt bedeutet. In seiner zunehmenden Schwäche beweist Benedikt XVI. vielleicht im Rückblick seine größte Stärke. Und bei der Frage nach dem „warum gerade jetzt“, liegt, wie so oft im Leben, die Wahrheit wohl in der Verbindung aus unterschiedlichen Gründen.

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Jürgen Erbacher

Seit Juli 2018 leite ich die ZDF-Redaktion "Kirche und Leben katholisch", für die ich seit 2005 über die Themen Papst, Vatikan, Theologie und katholische Kirche berichte. Dafür pendle ich regelmäßig zwischen Mainz und Rom - meiner zweiten Heimat. Dort habe ich vor meiner ZDF-Zeit mehrere Jahre gelebt und für Radio Vatikan gearbeitet. Studiert habe ich Politikwissenschaft und Katholische Theologie in Freiburg i.Br. und Rom.