Zwischen Emotionen und Politik

Für Papst Franziskus dürfte der Tag heute einer der emotionalen Höhepunkte seiner ersten Auslandsreise gewesen sein. Jorge Mario Bergoglio verbindet viel mit dem Marienwallfahrtsort Aparecida. Nicht nur, dass er ein großer Verehrer der Muttergottes ist, nein hier hat er eines seiner Meisterstücke abgelegt, wenn nicht vielleicht sogar das Meisterstück schlechthin: das Abschlussdokument der CELAM-Generalversammlung, der Bischofskonferenzen Lateinamerikas und der Karibik, von 2007. Man darf sicher davon ausgehen, dass ihm seine Arbeit damals auch viel Sympathie bei den lateinamerikanischen Kardinälen eingebracht hat. Das Dokument selbst dürfte auch bei vielen anderen Bischöfen und Purpurträgern „aus dem Süden“ großen Anklang gefunden haben. Ob er deshalb auch viele Stimmen aus dem Süden im Konklave bekommen hat?

Trotz Regens kamen 200.000 nach Aparecida, um den Papst zu sehen.

Das Dokument ist auch deshalb spannend, weil es nach dem traditionellen Schema der Befreiungstheologie vorgeht: Sehen – urteilen – handeln. Es entwirft, wie hier schon mehrfach geschrieben, die Vision einer missionarischen Kirche im 21. Jahrhundert. An vielen Stellen hat es aber auch klare politische Aussagen. Als Chefautor des Dokuments sind diese auch von Bergoglio/Papst Franziskus gedeckt. So gibt es in dem Abschlussdokument von 2007 etwa Kritik, dass Globalisierung vor allem unter Gesichtspunkt des Marktes, der Effizienz und Produktivität gesehen wird. „In ihrer gegenwärtigen Gestalt ist die Globalisierung unfähig, jene objektiven Werte, die sich jenseits des Marktes befinden und die für das menschliche Leben besonders wichtig sind, wahrzunehmen und ihnen zu entsprechen: Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe und insbesondere die Menschenwürde und Rechte aller, auch jener, die am Rande des Marktes leben.“ (61) In dem Dokument findet sich auch die Formulierung, die Franziskus im Flugzeug gebraucht hat. „Die Ausgeschlossenen sind nicht nur ‚Ausgebeutete‘, sondern ‚Überflüssige‘ und ‚menschlicher Abfall‘“. (65)

Das Dokument sieht für die Kirche einen ganz klaren Auftrag, sich in Politik einzumischen. „Zugleich aber müssen wir mit anderen Instanzen bzw. Institutionen zusammenarbeiten, um die Strukturen auf nationaler und internationaler Ebene gerechter zu gestalten. Es müssen dringend Strukturen geschaffen werden, durch die die gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Ordnung so konsolidiert wird, dass Ungleichheit beseitigt wird und alle Menschen gleiche Chancen erhalten. Wir brauchen auch neue Strukturen, um das Zusammenleben der Menschen aufrichtig zu gestalten, um die Vorherrschaft von Wenigen zu verhindern und einen konstruktiven Dialog zu ermöglichen, damit die Gesellschaft zum notwendigen Konsens findet.“ (384) Kirche an der Seite der Armen bedeutet also nicht einfach nur Almosen geben. „Barmherzigkeit ist stets unentbehrlich, aber sie darf nicht zu einem ‚Circulus vitiosus‘ beitragen, der das Funktionieren eines ungerechten Wirtschaftssystems aufrechterhält. Deshalb bedürfen die Werke der Barmherzigkeit der Ergänzung durch das Streben nach wirklicher sozialer Gerechtigkeit, die den Lebensstandard aller Bürger anhebt und sie zu Subjekten ihrer eigenen Entwicklung macht.“ (385)

Soweit das Dokument. Mir scheint, dass langsam auch bei dieser Reise die politischen Aussagen des Papstes deutlicher werden. Heute Abend etwa bei seinem Besuch in der Drogenklinik wandte er sich ganz ausdrücklich gegen die „Liberalisierung des Drogenkonsums, wie sie in verschiedenen Teilen Lateinamerikas diskutiert wird“. Er kritisierte „das Übel des Drogenhandels, das Gewalt fördert und Schmerz und Tod sät“. Wie schon bei anderen Gelegenheiten, etwa dem Besuch auf der Flüchtlingsinsel Lampedusa, verurteilte er scharf die Gleichgültigkeit und das Desinteresse in der Gesellschaft angesichts der Not vieler Menschen.

Auch heute nutzte Franziskus den Fiat. SCV1 auf einem Kleinwagen - das ist ein ungewohnter Anblick.

Bereits in seiner Predigt in Aparecida am Vormittag sprach er von Großherzigkeit, Solidarität und Brüderlichkeit. Hier richtete sich sein Blick zwar vor allem in Richtung der Jugend; doch dürften seine Aussagen sicherlich auch grundsätzlich zu verstehen sein. Er forderte, „jungen Menschen die Werte zu vermitteln, die sie zu Erbauern einer gerechteren, solidarischeren und brüderlichen Nation und Welt“ machten. Er warnte davor, dass Jugendliche angesichts eines „Gefühls der Einsamkeit und der Leere“ Götzen wie Erfolg, Macht, Vergnügen und Geld anhingen. Hier seien alle gefordert, den Jugendlichen entsprechende Perspektiven zu bieten.

Für Aufsehen sorgte die Ankündigung von Papst Franziskus am Ende des Gottesdienstes, dass er 2017 gerne zum 300-Jahr-Jubiläum von Aparecida wieder kommen möchte. Das wurde mit großem Jubel quittiert. Man konnte Franziskus zu Beginn der Messe ansehen, dass für ihn diese Etappe seiner Reise einer der emotionalsten Momente war. Als er in Stille vor der Marienstatue verharrte, rang er mit der Fassung.

P.S. Was 2017 anbetrifft, erinnerte Vatikansprecher Federico Lombardi am Abend daran, dass Fatima 2017 das 100-Jahr-Jubiläum feiert und somit evtl. ein Wettlaufen der Marienwallfahrtsorte um einen Papstbesuch stattfinden könnte. Allerdings dürfte nach den Worten von Franziskus heute klar sein, dass Aparecida 2017 auf dem Reiseprogramm steht.

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Jürgen Erbacher

Seit Juli 2018 leite ich die ZDF-Redaktion "Kirche und Leben katholisch", für die ich seit 2005 über die Themen Papst, Vatikan, Theologie und katholische Kirche berichte. Dafür pendle ich regelmäßig zwischen Mainz und Rom - meiner zweiten Heimat. Dort habe ich vor meiner ZDF-Zeit mehrere Jahre gelebt und für Radio Vatikan gearbeitet. Studiert habe ich Politikwissenschaft und Katholische Theologie in Freiburg i.Br. und Rom.