Der Fall McCarrick und die Fehler im System
460 Seiten umfasst der Untersuchungsbericht zum Fall des ehemaligen US-Kardinals Theodore E. McCarrick, den der Vatikan heute vorlegte. Papst Franziskus hatte den ehemals hoch angesehenen US-Kirchenmann 2018 zunächst aus dem Kardinalsstand und 2019 aus dem Priesterstand entlassen. Der heute 90-Jährige soll zwischen 1970 und 1990 Priesteramtskandidaten und junge Geistliche sexuell ausgebeutet und sich in mindestens zwei Fällen an Minderjährigen vergangen haben. Immer wieder wurden Vorwürfe gegen den Kirchenmann laut. Warum er dennoch die kirchliche Karriereleiter bis zum Erzbischof von Washington emporsteigen und bis 2018 weitestgehend ohne Einschränkungen agieren konnte, sollte der Bericht klären. Er zeigt Fehler im System auf und wirft Schatten auf die Pontifikate von Johannes Paul II. bis Franziskus. Ob der Vatikan wirkliche Lehren aus den Versäumnissen zieht, muss sich erst noch zeigen. Mit der Veröffentlichung des Berichts ist die Causa noch längst nicht abgeschlossen.
Johannes Paul II. handelt gegen den Rat des Apparats
Es ist ein beispielloser Vorgang. Noch nie hat der Vatikan einen derart ausführlichen Bericht über interne Untersuchungen vorgelegt. Inwieweit die umfangreiche Dokumentation wirklich alle Informationen über den Fall McCarrick enthält, lässt sich nicht sagen. Es war eine interne Untersuchung. Die nächsten Wochen und Monate werden zeigen, wie belastbar der Inhalt wirklich ist. Angesichts der Fülle des Materials lässt sich nicht binnen weniger Stunden darüber urteilen. Deutlich wird aber schon bei einem ersten Blick, dass an vielen Stellen Fehler gemacht wurden. Aus den USA wurden dem Vatikan Informationen vorenthalten, der Nuntius vor Ort hat seine Aufgaben nicht immer gemäß den Vorgaben ausgeführt und in der römischen Zentrale wurden zu wenige Fragen gestellt, Anschuldigungen als Verleumdungen abgetan, laut Bericht, weil sie zu unpräzise waren, und schließlich nicht konsequent verfolgt, als sie präziser wurden.
Ein zentraler Fehler war sicherlich, dass Johannes Paul II. bei der Ernennung McCarricks zum Erzbischof von Washington im Jahr 2000 den Unschuldsbeteuerungen McCarricks mehr Glauben schenkte als den Warnungen des eigenen Apparats. Demnach lagen damals zwar Anschuldigungen gegen den Kardinal vor, etwa dass er mit Seminaristen in einem Haus am Meer das Bett geteilt habe. Auch wenn man sie im Vatikan für substanzlos hielt, befürchtete man, dass eine Ernennung des Kirchenmanns zum Erzbischof der US-Hauptstadt einen Skandal heraufbeschwören könnte. Johannes Paul II. entschied anders. Im Bericht wird das mit der Erfahrung des Papstes in seiner polnischen Heimat begründet, wo er jahrelang Zeuge „von falschen Anschuldigungen gegenüber Bischöfen“ durch das Regime gewesen sei, „um der Kirche zu schaden“.
Benedikt XVI. handelt halbherzig
Benedikt XVI. habe zu Beginn seiner Amtszeit 2005 das Mandat des damals 75-Jährigen McCarrick in Washington noch einmal um zwei Jahre verlängert. Als Ende 2005 aber neue Vorwürfe wegen Belästigung und Missbrauch von Erwachsenen auftauchten, drängte Benedikt XVI. ihn zum Rücktritt. Der erfolgte im Mai 2006. Allerdings verzichtete man auf eingehende Untersuchungen. Heute begründet man das damit, dass keine Anschuldigungen wegen Missbrauch von Minderjährigen vorgelegen hätten und der Kardinal nun pensioniert sei. Aufforderungen, zunächst mündlich und dann auch schriftlich, dass er seine intensive Reisetätigkeit im In- und Ausland einstellen und ein zurückgezogenes Leben führen soll, ignorierte McCarrick. Von Seiten des Vatikans leitete man auch keine weiteren Schritte ein.
Franziskus lässt den Kirchenmann nach seiner Wahl zum Papst 2013 weiter gewähren. Vatican News schreibt in seinen Erläuterungen zum Bericht, Franziskus habe es nicht für notwendig erachtet, „zu ändern, was seine Vorgänger bestimmt hatten“. Er habe in der Meinung gehandelt, „dass die Anschuldigungen unter Johannes Paul II. überprüft und zurückgewiesen worden seien, und im Wissen darum, dass McCarrick während des Pontifikats von Benedikt XVI. tätig geblieben war“. Dass man Franziskus bereits 2013 über die Vorwürfe informiert habe, wie der ehemalige Nuntius in den USA, Erzbischof Carlo Maria Vigano, behauptet, treffe nicht zu. Als aber 2017 detaillierte Anschuldigungen zu sexuellem Missbrauch von Minderjährigen vorgelegen hätten, habe Franziskus umgehend und schnell gehandelt.
Werden Konsequenzen gezogen?
Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin schreibt aus Anlass der Veröffentlichung des Berichts, kein Verfahren sei frei von Fehlern, „weil daran Männer und Frauen mit ihrem Gewissen und ihren Entscheidungen beteiligt sind. Dieser Bericht wird sich aber auch dahingehend auswirken, dass sich alle an derartigen Entscheidungsprozessen Beteiligten über das Ausmaß ihres Urteils oder ihrer Unterlassungen stärker bewusstwerden“. Der Bericht darf nicht dazu führen, die Probleme nur auf persönliche Fehler Einzelner zu schieben. Sondern es ist auch wichtig, nach den systemischen Ursachen zu schauen, die den Aufstieg McCarricks trotz seiner Verfehlungen möglich gemacht haben und die zugleich ein Klima geschaffen haben, in dem die Opfer nicht gehört wurden oder sich nicht zu reden trauten.
Der Vatikan wies heute darauf hin, dass zahlreiche Maßnahmen, die Papst Franziskus in den vergangenen zwei Jahren zur besseren Bekämpfung des Missbrauchs und einer besseren Aufarbeitung erlassen habe, Fehler ausschließen sollen, die im Fall McCarricks begangen wurden. Dazu gehöre die Verordnung Vos estis lux mundi über die Anzeigepflicht von Missbrauchsfällen und den Umgang mit Bischöfen, die ihren Pflichten in dem Kontext nicht nachkommen oder aber auch die Aufhebung des Päpstlichen Geheimnisses für Vorgänge, die mit sexuellem Missbrauch in Zusammenhang stehen.
Kleine Schritte
Langsam wirken die neuen Regeln. Vergangene Woche wurden Disziplinarstrafen gegen den polnischen Kardinal Henryk Gulbinowicz verhängt. Der 96-Jährige wird des sexuellen Missbrauchs beschuldigt. Er darf keine Gottesdienste mehr zelebrieren, die Nutzung der Bischofsinsignien wurden ihm verboten und eine spätere Beisetzung in der Kathedrale seines früheren Bischofssitzes Breslau untersagt. Mitte Oktober nahm der Papst den Rücktritt des polnischen Bischofs Edward Janiak an, der Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs durch Priester in der Diözese Kalisz ignoriert haben soll. Anfang September trat in den USA der ernannte Bischof Michael Mulloy wenige Wochen vor der Bischofsweihe zurück, weil von staatlichen Stellen Ermittlungen wegen Kindesmissbrauchs gegen ihn aufgenommen worden waren.
Der Vatikan bewegt sich. Das zeigt auch die Veröffentlichung des umfangreichen Berichts über den Fall McCarrick. Doch nach wie vor mahlen die Mühlen langsam. Für die Opfer ist es wichtig, dass konkrete Personen Verantwortung übernehmen auch für systemisches Versagen. Doch hier müssen sie weiter warten.
9 Kommentare
Viel einfacher wäre: Priester und Bischöfe sind mit den Frauen und Männern verheiratet, die sie lieben, haben mit diesen Sex und/oder masturbieren. Nur ohne Verdruckstheit, ohne Sexuelles zum Machtinstrument aufgebaut zu haben.
Solange Sex (nicht nur) bei Klerikern tabuisiert wird in der Kirche, wird es immer wieder Fälle wie diesen geben. Immerhin räumt Franziskus mit dem Unrat, den ihm JP2 und B16 hinterlassen haben, auf.
Wirklich ? Ich sehe da eher Scheingefechte. Es geht nichts vorwärts: da gibt es Verweigerungshaltungen bei der Missbrauchsaufklärung (siehe Woelki) und bei den Angelegenheiten die Damen betreffend um sie zunehmend mehr einzubinden wie es sinnvoll wäre, tut sich so gut wie nichts. Dafür unverbindliche Friedengespräche mit Vertretern von Religionen, bei denen es keinerlei Gemeinsamkeiten sondern nur unüberbrückbare Gegensätze gibt. Wenn es zwischen den christlichen Konfessionen unter dem Druck des Vatikan nicht einmal zum gemeinsamen Abendmahl langt und die zumeist deutschen Initiativen abgewürgt werden (lassen wir die wenigen Hardliner mal ausser Acht), dann sagt das doch wohl alles. . .
Wie gehabt: da sieht sich der Vatikan wie schon oft genötigt, den Katholiken eine Interpretation zu Franziskus‘ Worten bzgl. der gleichgeschlechtlichen Partnerschaften und deren Recht auf Familie nachzuschieben, dann die Wogen zum skandalösen Finanzgebaren und Immobiliengeschäften einiger hoher Amtsträger des Kirchenadels zu glätten. Und was den interreligiösen Dialog und Friedensgipfel angeht, zu erklären wie Christen (in diesem Fall die US-Evangelikalen) kritiklos einem skrupellosen und äusserst fragwürdigen Typen wie Trump eine Art Erlöserstatus anhängen. Fehlt nur noch die Entscheidung Kardinal Woelkis, trotz des Leitfadens für Missbrauchs-Angelegenheiten die in Auftrag gegebenen Studien des Bistums Köln unter Verschluss zu stellen. Alles nach dem Motto: Vorwärts Kameraden wir müssen zurück, oder wie ?
„…soll zwischen 1970 und 1990 Priesteramtskandidaten und junge Geistliche sexuell ausgebeutet…haben“ Wie funktioniert solch eine sexuelle Ausbeutung von Priesteramtskanditaten? Bordellartige Zustände mit Sexsklaven? Meine Phantasie reicht gerade nicht dazu aus, mir das vorzustellen.
Ein Priesterkandidat, der wirklich Priester werden will, wohnt in einem Seminar. Preiswert. Er hat ein Ziel, das er nicht einfach zur Disposition stellt bei Schwierigkeiten. Da kommt ein Oberer, berührt ihn anfangs in seinem Zimmer am Oberschenkel. Eine Woche später gibt es ein nettes Gespräch, vielleicht mit Cognac im Zimmer des Regens. Oder in der bischöflichen Residenz. Welche Ehre für einen Priesterkandidaten. Vielleicht wird hier schon der Arm umgelegt. Irgendwann kommt der Kuss. Und dann die Penetration.
Auch Priesterkandidaten sind Schutzbefohlene. Sie sind in einer Situation des Machtungleichgewichtes, das ausgenutzt wurde und wird – nicht nur sexuell. Nur weil die Phantasie nicht hinreicht (was Sie in diesem Fall eher ehrt), heißt es nicht, dass sexuelle Ausbeutung nicht möglich ist. Sexuelle Ausbeutung beginnt schon viel früher als zB im Böhmerwald, wohin hetero- wie homosexuelle Weltchristen und Priester fahren, um schmuddelig Sexsklaven zur Prostitution auszunutzen.
@Novalis 12.11. 12:24
-Interessant. Die geschilderte Vorgehensweise im Kirchensektor mit Abhängigen oder naiv-Unmündigen scheint wohl die gleiche wie in den laizistischen Bereichen. Bleibt die (ironische) Frage: wer hat vom Anderen abgekupfert ? Die dazu erforderlichen Machtfaktoren jedenfalls fanden sich gleichermassen (historisch) beim Adel und Klerus, wobei es Letzerem durch die hierarchische Kirchenstruktur leicht gemacht wurde, die seinen in die Neuzeit hinüber zu retten, was (wie zu beweisen war/ist) auch heute noch fatale Folgen hat.
„Leider gibt es auch Situationen, die nie genug beklagt werden können, in denen es die Kirche selber ist, die leidet, und zwar wegen der Untreue einiger ihrer Diener. Die Welt findet dann darin Grund zu Anstoß und Ablehnung. Was in solchen Fällen der Kirche am hilfreichsten sein kann, ist weniger die eigensinnige Aufdeckung der Schwächen ihrer Diener… In diesem Zusammenhang können die Lehren und die Beispiele des heiligen Johannes Maria Vianney allen einen bedeutsamen Anhaltspunkt bieten: ‚Oh, wie groß ist der Priester! … Wenn er sich selbst verstünde, würde er sterben … Gott gehorcht ihm: Er spricht zwei Sätze aus, und auf sein Wort hin steigt der Herr vom Himmel herab und schließt sich in eine kleine Hostie ein… Nach Gott ist der Priester alles!'“ In „diese[n] Aussagen, die aus dem priesterlichen Herzen eines heiligen Priesters hervorgegangen sind,… offenbart sich die außerordentliche Achtung, die er dem Sakrament des Priestertums entgegenbrachte.“
Treffender kann man eigentlich die Verachtung für Missbrauchsopfer nicht in Worte fassen, als es Benedikt XVI. getan hat.
Symbolträchtiges Bild: Papst Franziskus nachdenklich in einem goldfarben verzierten Sessel bei einer Messe zum katholischen „Welttag der Armen“…
Heute in der doch ziemlich seriösen Süddeutschen Zeitung zur Missbrauchsuntersuchung im Erzbistum Köln und der unerwarteten Weigerung Erzbischof Woelkis diese zu veröffentlichen, Überschrift „Die Erkenntnisse müssen toxisch sein“. Und Woelki schweigt dazu. Mit der Anweisung des Vatikan zur angeblich neuen Handhabung der Missbrauchsproblematik scheint es also wohl nicht weit her zu sein oder aber es gibt eine breite Front der Verweigerer im Klerus, denen sich auch Woelki angeschlossen hat. Bleibt die Frage nach Roms Konsequenzen. . .
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