Papst: Es gibt keine christliche Leitkultur mehr

Es war eine aufrüttelnde Rede von Papst Franziskus beim traditionellen Weihnachtsempfang für die Römische Kurie. Letzten Endes war es einmal mehr eine Werberede für seine Reformen in der römischen Verwaltungszentrale, aber auch in Bezug auf seine Vision von Kirche. Alles stehe unter dem Primat der Evangelisierung, erklärte Franziskus. Aber das Christentum habe längst die Deutungshoheit über die Welt verloren. Also müsse die Kirche sich schleunigst auf die neuen Zeiten einstellen. Dabei verwies Franziskus ausdrücklich auf die Tradition, die nie statisch sei, sondern dynamisch. Er schloss mit einem provokanten Zitat des verstorbenen Mailänder Kardinals Carlo Maria Martini: „Die Kirche ist zweihundert Jahre lang stehen geblieben. Warum bewegt sie sich nicht? Haben wir Angst? Angst statt Mut? Wo doch der Glaube das Fundament der Kirche ist. Der Glaube, das Vertrauen, der Mut. […] Nur die Liebe überwindet die Müdigkeit.“

Stuhlkreis mit Papst – Franziskus wirbt beim traditionellen Weihnachtsempfang für die Spitzen der Römischen Kurie für seine Reformen. (Quelle: ap)

Papst will weiter Reformen

Franziskus lässt nicht locker. Wer dachte, die Widerstände in der Römischen Kurie und vielen Teilen der Weltkirche bringen ihn von seinem Weg ab, irrt. Unermüdlich versucht er die Skeptiker zu überzeugen. Nicht ohne scharfe Kritik an denen, die sich in „Starrheit“ üben. Dabei schlägt der Papst einen weiten Bogen. „Die Geschichte des Volkes Gottes – die Geschichte der Kirche – ist immer von Aufbrüchen, Umzügen, Veränderungen gekennzeichnet“, hebt er zu Beginn seiner Rede mit Verweis auf Abraham und die ersten Jünger Jesu an.

Das habe heute eine besondere Bedeutung, denn wir lebten in einer Zeit, in der es nicht einfach nur Veränderungen gebe, sondern wir erlebten einen „Epochenwandel“. „Wir stehen also an einem der Momente, in denen die Veränderungen nicht mehr linear sind, sondern epochal“. Das fordere die Kirche heraus. Es brauche neue Denkweisen und Grundeinstellungen. „Wir haben keine christliche Leitkultur mehr, es gibt keine mehr!“, betonte Franziskus. „Wir sind heute nicht mehr die Einzigen, die Kultur prägen, und wir sind weder die ersten noch die, denen am meisten Gehör geschenkt wird.“ Das betreffe nicht nur die ehemals traditionellen Missionsgebiete sondern gerade auch die westlichen Kontinente.

Reform bedeutet nicht Relativismus

„Wir brauchen daher einen Wandel im pastoralen Denken, was freilich nicht heißt, zu einer relativistischen Pastoral überzugehen“, verteidigt der Papst seine Idee gegen Kritik. „Das Christentum ist keine dominante Größe mehr, denn der Glaube – vor allem in Europa, aber auch im Großteil des Westens – stellt keine selbstverständliche Voraussetzung des allgemeinen Lebens mehr dar, sondern wird oft sogar geleugnet, belächelt, an den Rand gedrängt und lächerlich gemacht.“ Das führe zu ernsthaften Fragen hinsichtlich der Identität des christlichen Glaubens. Die Antwort muss sich an der Evangelisierung und den Menschen orientieren, ist Franziskus überzeugt.

Er erklärt, dass auch seine Vorgänger Johannes Paul II. und Benedikt XVI. dies gesehen hätten. Damit will er wohl den Nachweis bringen, dass seine Ideen jetzt auch nicht radikal anders sind. Diese Veränderungen in der Gesellschaft müssten „zwangsläufig zu Veränderungen und neuen Schwerpunkten“ in den römischen Dikasterien führen, allen voran der Glaubenskongregation und der Kongregation für die Evangelisierung der Völker. „Die Römische Kurie ist nicht ein von der Wirklichkeit losgelöster Körper“, erklärte das katholische Kirchenoberhaupt den Spitzen der römischen Zentralverwaltung.

Warnung vor Starrheit

Abschließend kommt Franziskus dann noch einmal etwas expliziter auf die Widerstände zu sprechen, wenn er vor der Versuchung warnt, „eine Haltung der Starrheit anzunehmen“. „Die Starrheit kommt von der Angst vor Veränderung und übersät am Ende den Boden des Gemeinwohls mit Pflöcken und Hindernissen und macht ihn so zu einem Minenfeld der Kontaktunfähigkeit und des Hasses.“ Hinter jeder Starrheit stecke „irgendeine Unausgeglichenheit“. „Die Starrheit und die Unausgeglichenheit nähren sich gegenseitig in einem Teufelskreis“, erklärte der Papst.

Es war keine Gardinenpredigt, wie sie die Kurienkardinäle und Kurienbischöfe in den vergangenen Jahren schon beim Weihnachtsempfang über sich haben ergehen lassen müssen. Aber deutlich bleibt Franziskus in seinen Worten. Es ist seine Form, aufzurütteln und so manchen Kirchenfürsten aus dem kurialen oder bischöflichen Wolkenkuckucksheim auf die Erde zurückzuholen. Denn die Lage ist ernst. Die Analyse des Kirchenoberhaupts zur gesellschaftlichen Stellung der Kirche ist nicht neu; aus dem Mund eines Papstes das selbstkritische Eingeständnis zu hören, dass es die christliche Leitkultur nicht mehr gibt, ist allerdings nicht alltäglich. Franziskus hat mit dem Termin heute deutlich gemacht, dass er an seinem Kurs festhält.

Neue Achse in der Kurie!?

Interessant ist, welche Dikasterien Papst Franziskus heute in seiner Ansprache benennt, die angesichts der veränderten gesellschaftlichen Bedingungen eine besondere Bedeutung haben: die Glaubenskongregation, die Kongregation für die Evangelisierung der Völker und der Päpstliche Rat zur Neuevangelisierung auf der einen Seite, das Dikasterium für Kommunikation und das Dikasterium für die Ganzheitliche Entwicklung des Menschen auf der anderen Seite. Er macht deutlich, dass sich die Unterscheidungen der Aufgaben und Inhalte zwischen Glaubenskongregation, Missionskongregation und Neuevangelisierungsrat verwischen, weil es eben nicht mehr eindeutig Missionsgebiete und Gebiete klarer christlicher Prägung gibt.

Mit Blick auf die Kommunikation beont er, dass „die neue Kultur, die von Konvergenz und multimedialen Faktoren geprägt ist, von Seiten des Apostolischen Stuhls eine angemessene Antwort im Bereich der Kommunikation erfordert“. Es gehe um multimediale Angebote. Hier hat Franziskus sicherlich die Widerstände im Bereich der vatikanischen Medien im Blick, vor allem bei der Tageszeitung L’Osservatore Romano. Die Redakteure dort tun sich am schwersten mit der neuen multimedialen Aufstellung der vatikanischen Medien. Das Dikasterium für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen gehört für Franziskus zu den neuen zentralen Kurienbehörden, weil dort der Mensch im Mittelpunkt steht. Das Dikasterium ist Teil der neuen Achse der wichtigen, heute benannten, Kurienbehörden. Dazu gehören nicht mehr Kongregationen wie die für die Bischöfe, den Klerus oder die Liturgie. Diese Verschiebung wird sich nicht geräuschlos vollziehen.

Kardinaldekan Sodano zurückgetreten

Nach dem Treffen nahm der Papst den Rücktritt des Dekans des Kardinalskollegiums an. Kardinal Angelo Sodano, langjähriger Kardinalstaatssekretär im Pontifikat von Johannes Paul II., hatte das Amt 14 Jahre inne. Franziskus nutzte den Rücktritt des 92-Jährigen um die Amtszeit des Kardinaldekans künftig auf fünf Jahre zu begrenzen mit der Möglichkeit, einmal wiedergewählt zu werden. Wahlberechtigt sind die Kardinalbischöfe. Derer gibt es aktuell zwölf. Franziskus dankte Sodano für seinen Dienst als Dekan. Auffallend ist allerdings, dass im aktuellen Pontifikat das Kardinalskollegium an Bedeutung verloren hat. So fällt das Kardinalskollegium als Beratungsgremium des Papstes fast völlig aus. Es gibt zwar den Kardinalsrat, K9, der mittlerweile auf sechs Mitglieder geschrumpft ist, auch sind die Kardinäle nach wie vor Mitglieder in den Dikasterien der Römischen Kurie. Aber eigene Beratungstreffen des Kardinalskollegiums mit dem Papst gibt es im Pontifikat von Franziskus nicht.

Das dürfte auch daran liegen, dass Papst und Kardinaldekan nicht wirklich einen guten Draht zueinander gefunden haben. Eine Ausnahme gab es. Zu Beginn des synodalen Prozesses zu Ehe und Familie traf sich der Papst im Februar 2014 mit den Kardinälen, um über das Thema zu sprechen. Kardinal Walter Kasper machte damals auf Wunsch von Franziskus die Einführung. Bei den Diskussionen kam es beinahe zum Eklat, weil sich konservative und progressive mit scharfen Wortmeldungen unversöhnlichen gegenüberstanden. Manche Beobachter glauben, Franziskus sei seitdem ein gebranntes Kind und habe deshalb kein Beratungskonsistorium aller Kardinäle mehr einberufen. Sollte dem so sein, ist es dem Kardinaldekan nicht gelungen, neues Vertrauen aufzubauen in die Sinnhaftigkeit des Gremiums. Das muss nun der Nachfolger Sodanos leisten.

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Jürgen Erbacher

Seit Juli 2018 leite ich die ZDF-Redaktion "Kirche und Leben katholisch", für die ich seit 2005 über die Themen Papst, Vatikan, Theologie und katholische Kirche berichte. Dafür pendle ich regelmäßig zwischen Mainz und Rom - meiner zweiten Heimat. Dort habe ich vor meiner ZDF-Zeit mehrere Jahre gelebt und für Radio Vatikan gearbeitet. Studiert habe ich Politikwissenschaft und Katholische Theologie in Freiburg i.Br. und Rom.

8 Kommentare

  • neuhamsterdam
    21.12.2019, 16:30 Uhr.

    «„Die Geschichte des Volkes Gottes – die Geschichte der Kirche – ist immer von Aufbrüchen, Umzügen, Veränderungen gekennzeichnet“»
    Eigenartig. Bereits gestern habe ich mich an das Gedicht von Nostradamus
    erinnert, in dem er vom großen Pontifex schreibt, der das Land ändert. Das passt genau dazu. Sieben Jahre sind es bald, daß Franziskus regierendes Kirchenoberhaupt ist. Man meint „durch eine Wolke zwei Sonnen“ zu sehen — es ist nunmal Tradition, wenn alle Welt gespannt auf den weißen Rauch nach dem Konklave wartet. Benedikt und Franziskus tragen das päpstliche Weiß.
    Einen hab ich noch: Der schlichte Satz von Sybille von Prag ist auch richtig, nimmt man die Malachiasweissagung als Bezugspunkt. Franziskus wird allgemein die Devise „Petrus der Römer“ zugeordnet. Das zwar nicht wissenschaftlich, aber diese Zählfolge ist verbreitet. Petrus war eben der, auf dessen Autorität sich die Päpste berufen. Wäre da noch Benedikt. Auch in dieser prophetischen Hinsicht ist Benedikt kein Problempapst. Als er nämlich zurücktrat, wurde nach historischen Vorbildern für diesen Schritt gesucht und am ähnlichsten traf dies auf Coelestin V. zu. Überraschung! Die Malachiasprophetie beginnt im Jahr 1143 mit Coelestin II.

  • Novalis
    21.12.2019, 22:06 Uhr.

    Ich habe schon Begriff Leitkultur nie etwas gehalten. Letztlich geht es um Ab- oder noch mehr um Ausgrenzung, meist muslimischer Minderheiten in westlichen Gesellschaften. Dass das Christentum nicht mehr prägend ist, liegt natürlich auch im kirchenpolitisch katastrophalen Kurs von JP2 und B16 begründet. Umso bedeutender, dass der Papst auf seinen Ordensbruder Martini rekurriert. Wäre doch der nur Papst geworden. Das hätte uns den Irrsinn unter B16 erspart.
    Frohe Weihnachten Ihnen, Herr Erbacher und allen guten Willens, die hier mitschreiben.

  • Erasmus
    22.12.2019, 18:57 Uhr.

    Den Rücktritt von Kardinal Sodano empfinde ich als wohltuende Nachricht. Mir ist noch sein unsäglicher Auftritt bei der Ostermesse 2010 in Erinnerung, als er meinte, – im Zusammenhang mit dem Missbrauchsskandal – Benedikt beispringen zu müssen: „Heiliger Vater, das Volk Gottes ist mit Dir und wird sich nicht von dem unbedeutenden Geschwätz dieser Tage beeinflussen lassen.“

    Die Verkleinerung des Kardinalrats vor gut einem Jahr habe ich nicht mitbekommen. Meine Recherche ergab, dass Kardinal Pell (Präfekt des päpstlichen Wirtschaftssekretariats) am 11.12.2018 in Australien als Missbrauchstäter verurteilt wurde und dass gegen den entpflichteten Kardinal Errázuriz Ossa chilenische Behörden wegen Vertuschung von Fällen sexuellen Missbrauchs ermitteln. Offensichtlich wurde aus von außen gegebenem Anlass Mitte Dezember 2018 die Integrität des Spitzengremiums „Kardinalsrat“ wieder hergestellt.

    Es bleibt zu hoffen, dass Papst Franziskus die Kraft hat, Reformen nicht nur einzufordern, sondern auch umzusetzen.

    • Novalis
      22.12.2019, 19:50 Uhr.

      Sodano gehört außerdem zu den schlimmsten Gaynetworkern nach Martel und hat den Gründer der Legionäre jahrelang gedeckt.

  • Klemens Füreder
    23.12.2019, 10:34 Uhr.

    Geschätzte Blog-Gemeinde,

    wer zum Anlass seines Rücktritts auch was kritisches über ANGELO SODANO lesen will, bitte hier:

    (aus „DiePresse“ vom 23.12.2019, Seite 1)

    Der Strippenzieher muss gehen

    […]*

    DIESER Mann musste also endlich gehen. Eine gute Nachricht.

    Weihnachtliche Grüße,
    Klemens Füreder

    *Aus presserechtlichen Gründen können wir leider ein so langes Zitat aus DiePresse, das beinahe den ganzen Artikel umfasst, nicht veröffentlichen.

    • Jürgen Erbacher
      Jürgen Erbacher
      23.12.2019, 13:07 Uhr.

      Kardinal Sodano hat in den vergangenen Jahrzehnten in der Tat an vielen Strippen gezogen. In der Diskussion um die Schwangerenkonfliktberatung in Deutschland in den 1990er Jahren stand er auf der Seite der Mehrheit der Deutschen Bischofskonferenz, die für einen Verbleib der kirchlichen Beratungsstellen im staatlichen System war. Bei diesem Thema wie auch an anderer Stelle war er ein Gegenspieler zum Präfekten der Glaubenskongregation, Kardinal Joseph Ratzinger. Der wollte etwa gegen den Gründer der Legionäre Christi, Marcial Maciel Degollado, vorgehen, Sodano hat das verhindert. Johannes Paul II. war in diesem Fall auf Sodanos Seite. Am Wochenende haben die Legionäre einen Bericht veröffentlich, wonach der Gründer mindestens 60 Minderjährige missbraucht haben soll. Insgesamt hätten seit 1941 weltweit 33 Priester der Ordensgemeinschaft mindestens 175 Minderjährige sexuell missbraucht.

  • Novalis
    23.12.2019, 16:57 Uhr.

    Sehr geehrter Herr Erbacher, am 23.11. lief die fünfjährige Amtszeit von Kardinal Sarah aus – ich habe keine Nachricht über eine Verlängerung, Versetzung o.a. gehört. Wissen Sie, was los ist?
    Frohe Weihnachten!

    • Jürgen Erbacher
      Jürgen Erbacher
      25.12.2019, 13:19 Uhr.

      Bisher ist mir nicht bekannt, auf wie lange das Mandat verlängert wurde. Kardinal Sarah wird im Juni 75 Jahre alt. Das könnte ein Zeitpunkt für eine Entschiedung sein. Es werden in den nächsten Monaten einige wichtige Personalentscheidung im Vatikan erwartet. Da könnte diese Personalie dazugehören.

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