Vertane Chance?

Papst Franziskus hat mit einer Grundsatzrede den Kinderschutzgipfel im Vatikan beendet. Damit hat er heftige Diskussionen ausgelöst. Denn einerseits bekräftigt er die harte Linie der katholischen Kirche beim Kampf gegen Missbrauch und betont, dass die Kirche an der Seite der Opfer stehen muss. Doch wenn es um die Frage nach konkreten Maßnahmen oder Konsequenzen nach den Beratungen der vergangenen drei Tage geht, bleibt er vage. Franziskus anerkennt, dass „die Unmenschlichkeit dieses Phänomens auf weltweiter Ebene in der Kirche noch schwerwiegender und skandalöser wird, weil es im Gegensatz zu ihrer moralischen Autorität und ihrer ethischen Glaubwürdigkeit steht“. Zugleich spricht er in weiten Teilen über den Missbrauch als gesamtgesellschaftliches Problem. Die Zahlen und Fakten, die er dabei bietet sind sicherlich zutreffend und ein Skandal; doch muss er sich die Frage gefallen lassen, ob der Abschluss der Kinderschutz-Tagung im Vatikan der richtige Ort dafür war. Zumal Franziskus zu Beginn der Tagung daran erinnert hatte, dass die Welt von der Kirche „nicht einfache und verständliche Verurteilungen, sondern konkrete und wirksame Maßnahmen“ erwarte.

Der Abschlussgottesdienst für den Kinderschutzgipfel fand in der Sala Regia statt – ein ungewöhnlicher Ort für eine Liturgie. (Quelle: dpa)

Task Forces zur Kontrolle?

Die Rede wirft einen Schatten auf die Konferenz im Vatikan. Was in den vergangenen vier Tagen im Vatikan passiert ist, war sicherlich außergewöhnlich. Die Offenheit, mit der gesprochen wurde, ist nicht selbstverständlich. Das Organisationskomitee wird sich gleich am Montagmorgen mit Spitzenvertretern der Römischen Kurie zusammensetzen, um einen Fahrplan für die Umsetzung von Maßnahmen zu besprechen, die bei der Konferenz diskutiert wurden. In Kürze soll bereits ein päpstlicher Erlass in Form eines Motu Proprio erscheinen, mit dem die Vorbeugung und der Kampf gegen Missbrauch vonseiten der römischen Kurie und des Vatikanstaats gestärkt werden soll. Auch will der Papst Task forces einsetzen, die den Bischofskonferenzen oder Bistümern bei Bedarf helfen sollen, die Richtlinien des Vatikans umzusetzen.

Ob diese Task forces auch exekutive Gewalt haben könnten, um die Ortskirchen zu kontrollieren, geht aus der Erklärung des Vatikans vom Sonntagmittag nicht hervor. Dabei liegt genau hier ein Knackpunkt. Wer kontrolliert, ob die vorhandenen Richtlinien eingehalten werden? In Irland beispielsweise werden die Bistümer alle drei Jahre von einer unabhängigen Stelle kontrolliert. Kardinal Reinhard Marx erklärte am Rande des Gipfels in Rom, dass er sich das auch für den Bereich der Deutschen Bischofskonferenz vorstellen kann.

Baustein auf dem Weg der Veränderung

Es gibt also einige konkrete Ergebnisse des Gipfels. Die großen Themen, über die in Deutschland im Vorfeld diskutiert wurde, bleiben weiter auf der Agenda. In vier Tagen kann der Vatikan weder den Zölibat abschaffen noch die Verfassungsstruktur der katholischen Kirche verändern. Aber das Treffen war ein weiterer Ort, an dem solche Themen auf breiter Ebene diskutiert wurden. Solche grundlegenden Veränderungen, wie sie in der katholischen Kirche nicht nur als Konsequenz aus den Missbrauchsskandalen notwendig sind, können nicht auf einer Synode, einem Konsistorium oder einem Gipfel beschlossen werden. Das braucht Zeit.

Es muss zudem gelernt sein, sich an dogmatisch und theologisch heikle Fragen heranzuwagen und sie zu diskutieren. Da müssen auch Störfeuer ausgehalten und Widerstände ausgeräumt werden. Der synodale Prozess zu Ehe und Familie, die Jugendsynode und die bevorstehende Amazonassynode sind alles Orte, an denen an vielen Stellen immer wieder über die gleichen Themen gesprochen wird – mal mehr und mal weniger offen, mal mehr und mal weniger kontrovers. Es braucht Zeit, bis ein großer Tanker einen neuen Kurs einschlagen kann, sagte am Sonntagmittag der Jesuitenpater Hans Zollner zum Abschluss des Gipfels. Das gilt für viele Themen in der katholischen Kirche. Daher ist es wichtig, dass es immer wieder solche Begegnungen von Entscheidern gibt, damit diese miteinander ins Gespräch kommen und voneinander lernen. Sie müssen unter Umständen auch lernen, dass die Gegebenheiten so unterschiedlich sind, dass man über eine größere Vielfalt in der katholischen Kirche nachdenken muss. Auch das ist Teil des Veränderungsprozesses. In diesem Sinn muss der aktuelle Gipfel sicherlich positiv gewertet werden. Dass Franziskus für sich nicht das Maximum herausgeholt hat, ist dann sein Problem. Er wird jetzt in den nächsten Wochen dafür sorgen müssen, dass er die konkreten Punkte, die angesprochen wurden, in die Tat umsetzt werden. Es geht um seine Glaubwürdigkeit.

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Jürgen Erbacher

Seit Juli 2018 leite ich die ZDF-Redaktion "Kirche und Leben katholisch", für die ich seit 2005 über die Themen Papst, Vatikan, Theologie und katholische Kirche berichte. Dafür pendle ich regelmäßig zwischen Mainz und Rom - meiner zweiten Heimat. Dort habe ich vor meiner ZDF-Zeit mehrere Jahre gelebt und für Radio Vatikan gearbeitet. Studiert habe ich Politikwissenschaft und Katholische Theologie in Freiburg i.Br. und Rom.

30 Kommentare

  • Maria
    24.02.2019, 18:29 Uhr.

    „….doch muss er sich die Frage gefallen lassen, ob der Abschluss der Kinderschutz-Tagung im Vatikan der richtige Ort dafür war.“
    Es war vielleicht insofern der richtige Ort, als er klar machte, dass das Problem des Missbrauchs von Kindern ein globales Problem ist. Immer wieder war ja zu lesen, dass das nicht allen Bischöfen bewusst war. Und in diesem Zusammenhang muss sich die Kirche vielleicht auf fragen lassen, ob sie sensibel und aktiv ist für an anderen Stellen missbrauchte Kinder, oder ob hier nicht zuweilen einfach weggeschaut wird. (Sextourismus nach Brasilien usw.)
    Außerdem war es ein sehr deutlicher Hinweis an diejenigen, die als Ursache für sexuellen Missbrauch ausschließlich Homosexualität sehen.

  • Novalis
    24.02.2019, 21:33 Uhr.

    Eine vertane Chance war das sicher nicht – aber es war nicht gut genug. Sehr gut ist dem Papst die soziale Einbettung des Phänomens des Missbrauch gelungen; sehr gut auch, dass er nicht den Rattenfängertönen gefolgt, das Problem einfach den Homosexuellen in die Schuhe schieben zu wollen. Und bezeichnend: Ganz klar ist der Papst, wenn sagt: Es ist ein Problem des Machtmissbrauchs. Wenn man sich überlegt, dass es noch vor nicht allzu langer Zeit närrische Bischöfe gab, die tönten, dass es in der Kirche keine Macht, sondern nur Vollmacht gäbe, dann muss man sagen: Ab heute kann kein Machthaber in der Kirche – das sind die Bischöfe – je wieder sagen, Missbrauch habe keine systemischen Gründe. Gerade die Südeuropäer unter den Machthabern wollten dies ignorieren. Kardinal Schönborn kann ein Lied davon singen.
    Den Originaltext der Predigt sollte man übrigens lesen. Es lohnt sich.

    • bernardo
      25.02.2019, 14:11 Uhr.

      Es lohnt sich überhaupt nicht, außer man will einen Eindruck bekommen, wie der Papst schlingert und schlingert. Das freilich ist nichts Neues. Mal sind Kirchenkritiker „ohne Liebe“ Verwandte und Freunde des Teufels, mal wird „die gottgeweihte Person, die von Gott auserwählt wurde, um die Seelen zum Heil zu führen, (…) zu einem Werkzeug Satans.“ Man braucht nicht den Teufel zu bemühen, um diese Vorgänge zu erklären. Er hätte auch besser geschwiegen über das häusliche Umfeld, die Sportvereine und Schulen – es ist zwar richtig, was er sagt, aber es klingt doch sehr nach Relativierung. Dasselbe gilt für den Hinweis, Wenn wir das Beispiel Italiens nehmen, „dass 68,9% der Missbräuche innerhalb der eigenen vier Wände des Minderjährigen stattfinden.“ Sogar Franziskus Wohlgesonnene sprechen inzwischen von einem „Fiasko“ und vom „Ende des Pontifikats“. Es wäre auch gut, wenn die Opfer (nicht von Machtmissbrauch oder generell Missbrauch, sondern von abscheulichen Straftaten) nicht nur ihre Leiden hätten schildern, sondern auch hätten mitdiskutieren können.

      Eine verpasste Chance. Und das gilt wohl für das gesamte Pontifikat.

  • Peter Werner
    25.02.2019, 3:47 Uhr.

    Ich begrüße es, dass Franziskus den Missbrauch Minderjähriger in der kath. Kirche in einen umfassenden Kontext gestellt hat (Stichworte: Internetpornographie insbesond.Kinderpornographie,Sextourismus,Kinderprosti-tution, Situation in Familien,Sportvereinen u. Schulen aber auch Kindersklaven,Kindersoldaten u. Abtreibung).
    Ich möchte hier für die sog. westliche Hemisphäre er-
    gänzen: Sexualisierung des Schulunterrichts insbesondere
    unter dem Regenbogenbanner.

    Hier muss ich die Medien, vor allem die säkularen, vor allem auch die öffentlich-rechtl. kritisieren, die bspw.
    in Rom, Fulda, Dublin u. Washington mit Mann und Maus
    aufkreuzen, wenn es darum geht einen Wirbel um den Miss-
    brauch in der kath. Kirche zu machen, nicht zuletzt auch
    mit dem deutlichen Motiv im Herzen, wichtige kath. Säulen
    (Zölibat, Priestertum, Sexualmoral [insbesond. hinsichtl.
    Homosexualität])anzugreifen (Stichwort: Missbrauch des
    Missbrauches). Hingegen bleiben sie auffallend leise und
    scheinen kaum geöffnete Augen u. Ohren zu haben, wenn es
    um den Missbrauch in anderen Bereichen (s.o.) geht. Wenn
    ich mir nur mal vorstelle, der Horror des Kindesmiss-
    brauchs auf dem Campingplatz in Lügde (NRW) wäre im kath.-priesterlichen Kontext geschehen – das mediale Bo-
    hei wäre doch sicher ein um Größenordnungen höheres gewesen. Auch die mediale Fokussierung auf die in meinen
    Augen doch sehr zweifelhafte ehemalige Ordensschwester
    Doris Wagner (Reisinger)wie auch auf Matthias Katsch vom „Eckigen Tisch“ im Vorfeld des Vatikangipfels
    war sehr verräterisch, was die einseitige negative Fixierung der Medien betrifft.

    Ich habe nichts dagegen, dass sich die Medien natürlich
    auch mit dem Missbrauch in der katholischen Kirche be-
    schäftigen, kann sie aber als seriöse Institutionen in
    dieser Hinsicht nicht ernstnehmen, so lange das genannte
    extreme Ungleichgewicht besteht und die unverkennbare Absicht, bedeutende katholische „Markenkerne“ schleifen
    zu wollen.

    Ich bin mir sicher, der Missbrauch läßt sich auch ohne
    Abbruch dieser „Markenkerne“ in Zukunft effektiv ein-
    dämmen. Wichtigste Voraussetzung dafür: die konsequente
    Eliminierung der homosexuellen Netzwerke in der Kirche,
    besonders im Klerus, wo offensichtlich schon höchste
    Stufen der Hierarchie durchsetzt sind. Leider war der
    Vatikangipfel in diesem maßgeblichen Punkt weitgehend
    wahrheitsblind. Eine Nichterteilung des „Nihil obstat“ an
    Ansgar Wucherpfennig in Frankfurt wäre hier ein Hoff-
    nungsschimmer gewesen, aber zur Wahrheitsblindheit kam in diesem Fall noch gravierende Feigheit hinzu.

    Bezüglich der Prävention sollten also folgende Punkte in den Leitlinien jedes Bistums enthalten sein: konsequente
    Umsetzung der von Benedikt XVI. approbierten Instruktion
    „Über Kriterien zur Berufungsklärung von Personen mit
    homosexuellen Tendenzen im Hinblick auf ihre Zulassung für das Priesteramt und zu den heiligen Weihen“(2005), Schaffung von unabhängigen Anlaufstellen für Missbrauchs-
    opfer in allen Bistümern, Übergabe begründeter Verdachts-
    fälle an die staatlichen Ermittlungsbehörden und bei nachgewiesenem Missbrauch an die staatliche Justiz, Ent-
    fernung aller Missbrauchstäter aus der Gemeinde- u. Schulseelsorge, Laisierung bei nachgewiesenem schwerem
    Missbrauch, Absetzung von Bischöfen bei nachgewiesener
    Missbrauchsvertuschung (Glaubenskongregation, Papst)und
    ebenfalls Übergabe der Vertuschungsfälle an die staat-
    liche Justiz, Priesterausbildung: den Kandidaten muss
    stärker als bisher die besondere Gnade und Heiligkeit des priesterlichen Dienstes klargemacht werden und vor diesem
    Hintergrund die vollkommene Hingabe an Christus inclusive
    der zölibatären Lebensform, die Ordinariate (aber auch die Gemeinden vor Ort) müssen dafür Sorge tragen, dass
    die Priester in stabilen, von christlicher Liebe getra-
    genen Verhältnissen leben können und dass sie im Gremien-
    katholizismus nicht menschlich und spirituell verhungern.

    • Ullrich Hopfener
      25.02.2019, 12:27 Uhr.

      @Peter Werner,
      ich weiß natürlich nicht, inwieweit Sie sich INHALICH mit sexualisierter Gewalt an Kindern beschäftigt haben..
      jedenfalls die Aussagen über die Missbrauchsopfer Doris Reisinger und Matthias Katsch nennt man in der Juristerei ÜBLE NACHREDE!

      Ihre homophoben Auslassungen erinnern mich an manche „kath“ Blogs..

      warum sind Sie denn nicht dankbar, dass man sich da austoben kann?

      aber volljährige Christen ,ob Mann/Frau – Mann/Mann – Frau/Frau – Intersexuelle , ALLE leben in der Sehnsucht nach erfüllender Liebe!

      Kirchenmänner haben bezüglich der sex Selbstbestimmung nun wirklich nichts verloren; Auch nicht als Voyeure ..

      was den pensionierten Herrn Müller angeht:
      im ZDF gibt’s 2 super Kabarett Programme: Heute Show – Die Anstalt
      vielleicht überlässt ja Herr Müller den jeweiligen Redaktionen mal sein „Copyright“

    • Heilbründl
      25.02.2019, 17:35 Uhr.

      Herr Werner,
      ich denke, es wäre an der Zeit, dass Homosexualität keine Rolle mehr spielen darf. Ich kenne ein verheiratetes homosexuelles Paar, die überlegen sichbsehr genau, in welche Länder sie in Urlaub fahren.
      Ich bin dafür, dass es hier keine Diskriminierung mehr geben darf.
      Böse, könnte man sagen, ein Homosexueller musste, um nicht angezeigt (175) zu werden, in früheren Jahren Priester werden, dann konnte er seine Sexualität ausleben und kein anderer Kleriker sagte was.
      ahren

  • Wanda
    25.02.2019, 16:01 Uhr.

    Achtung Satire:
    – Papst Franziskus erhält den Oscar für seine schauspielerische Leistung. Damit hat das 2 Jahrtausende lange Warten auf die längst fällige Auszeichnung ein Ende. Begründung der Jury ua. …“eindringliche Darstellung eines Mannes der Miszstände mit nebulösen Worten und Relativierungen benennt und so tut, als wolle er die kath. Kirche ändern“…
    – Heute in einer überregionalen, einigermassen seriösen deutschen Tageszeitung zu lesen. Satire darf übertreiben und überscharf zeichnen, trifft hier aber leider tatsächlich den wunden Punkt…

  • Erasmus
    25.02.2019, 17:14 Uhr.

    Die Rede von Papst Franziskus war für mich mehr als enttäuschend. Die Ausbreitung allgemein bekannter Fakten zum Thema Missbrauch lässt den Verdacht aufkommen, dass die besondere Monstrosität von sexueller Gewalt in einer Institution mit höchstem geistig-moralischem Anspruch relativiert werden soll.

    An der Stelle, an der Franziskus über empirische Erklärungen hinausgehend nach der tieferen Bedeutung des Missbrauchsphänomens fragt, hätte ich Aussagen über systemische Ursachen und Gefährdungen, die sexuellen Missbrauch innerhalb der Kirche begünstigen, erwartet. Aber nein, hier bringt Franziskus den von ihm immer wieder gern ins Visier genommenen Teufel ins Spiel. Hinter dem katholischen Kleriker, der die Unschuld von Kindern zerstört, steckt angeblich Satan. Jener „Geist des Bösen, der sich in seinem Stolz und seinem Hochmut als der Herr der Welt wähnt und denkt, gesiegt zu haben.“

    Wo der Teufel ist, ist die Teufelaustreibung nicht weit. Wollte man zwei verbalradikale Sätze von Franziskus ernst nehmen, so ginge es wirklich darum, den Teufel zu besiegen.
    – „Es ist daher die Stunde gekommen zusammenzuarbeiten, um diese Brutalität (verschiedener Gewalttaten gegenüber Kindern, Erasmus) aus dem Leib unserer Menschheit herauszureißen.“
    – „Appelliere ich … gegen den Missbrauch von Minderjährigen zu kämpfen, … denn es handelt sich um abscheuliche Verbrechen, die auf dem Antlitz der Erde ausgemerzt werden müssen.“

    Ich schätze Papst Franziskus sehr, und er hat große Verdienste in Richtung Erneuerung unserer Kirche, aber das Missbrauchsgeschwür in der heiligen katholischen Kirche scheint ihn zu überfordern.

    • 27.02.2019, 19:14 Uhr.

      Zustimmung!

      • Erasmus
        01.03.2019, 11:03 Uhr.

        „Wen überfordert das nicht?“

        Das ist sicher richtig, aber ein Papst muss seine Ansprachen nicht allein schreiben. Zum Beispiel hätte ihm die Expertise seines jesuitischen Mitbruders Klaus Mertes helfen können. Und – aber das ist zu verwegen – er hätte sich ein Beispiel an der eindringlichen Rede der Bischöfin der evangelischen Nordkirche, Kirsten Fehrs, vor der EKG-Synode im November 2018 nehmen können.

        Auszüge:
        – Viele können das Leid der Betroffenen emotional kaum aushalten. „Gewalt, allemal sexualisierte Gewalt, löst bei den meisten naturgemäß erst einmal den zutiefst menschlichen Reflex aus, sich nicht befassen zu wollen. Aber diesen Widerstand zu überwinden, ist unabdingbar, gerade doch zum Schutz vor weiterem Leid.“
        – „Die evangelische Kirche hat systemisch gesehen ganz spezifische Risikofaktoren, die noch deutlicher als bisher zu analysieren sind. … So z.B. die unreflektierte Vermischung von Privatem und Dienstlichem; dezentrale Strukturen, die unklar machen, wer für was zuständig ist – einschließlich einer fehlenden Beschwerdemöglichkeit; Einrichtungen als Closed-Shops, in denen keine Kontrolle funktioniert, geschehen auch im evangelikalen Bereich – all dies senkt Hemmschwellen für potentielle Täter und Täterinnen.“
        – „Dass gerade doch wir, die wir uns als Kirche Jesu Christi für den Schutz der besonders Schutzbedürftigen stark machen … alles tun müssen, um diesen Schutz zu gewährleisten. … Eine Kirche, die solcher Gewalt nicht wehrt, ist keine Kirche mehr! Es geht also nicht allein um Präventionskonzepte und Handlungsleitfäden, derer es dank der Engagierten viele gibt, sondern es ist auch eine theologische Frage, die uns in unserem Grundverständnis als Christinnen und Christen aufruft.
        – Es geht darum „ernst zu machen mit dem Schutzkonzept des Evangeliums:auch durch den Schmerz hindurch das Leben zu stärken.“

        • Novalis
          02.03.2019, 20:40 Uhr.

          Dem ist vollständig beizupflichten. Mit P. Mertes wäre ein echter Experte zum Thema da, der allemal richtige Intuitionen hat und mittlerweile auch die richtigen Worte zu wählen weiß. Das ist unserem Papst leider alles andere als optimal gelungen. Immerhin hat er nicht zur Ewigen Anbetung zum Zweck der Beseitigung des Übels aufgerufen. Manche Entgleisungen sind doch als solche selbst im Vatikan bekannt.
          Das Übel ist aber keineswegs nur der sexuelle Missbrauch, sondern auch massive körperliche Gewalt. Über die Prügelorgien, die in katholischen Bildungseinrichtungen stattgefunden haben, redet keiner mehr. Leider! Und es redet auch niemand darüber, dass es da, wo es Machtungleichgewichte gibt, immer auch Machtmissbrauch geben wird. Es wird also auch weiterhin trotz bester Präventivmaßnahmen Missbrauch geben. Und alle Präventivmaßnahmen werden nur dann sinnvoll sein, wenn das Machtungleichgewicht zwischen Klerikern und Laien abgebaut wird und der Zölibat nicht mehr als Pflichtvoraussetzung Leute mit einem Mangel an Willen zur Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität anzieht. So wie der Zölibat jetzt existiert, ist er eine geladene Waffe. In den Händen der falschen Leute richtet er nur Schaden an. Von dem binnentheologischen Grund, dass das Recht noch der kleinsten Gemeinde auf die sonntägliche Eucharistie als göttliches Recht himmelweit über dem Zölibat als menschlichem Recht steht. Keine Kirche, die den Papst als Oberhaupt hat, außer der lateinischen kennt diesen, man muss es sagen, Irrweg. Dieser Sonderweg der lateinischen Kirche innerhalb der katholischen Kirche muss beendet werden.

  • Martin
    25.02.2019, 19:09 Uhr.

    Wie der Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer sagte: Der Glauben an die „heilige Kirche“ könne in Zukunft nur noch dann redlich bekannt werden, wenn man mitbekenne, dass diese Kirche „auch eine sündige Kirche“ sei, führt der Bischof aus. Bisher hieß es, in der Kirche gebe es die Einzelnen als Sünder. Aber die Kirche an sich sei rein und makellos. „Davon müssen wir uns verabschieden.“ Denn es gebe auch „Strukturen des Bösen“ in der Kirche als Gemeinschaft. Um das Böse in der Kirche einzudämmen, bräuchte es eine wirksame Kontrolle der Macht in der Kirche. „Wir brauchen Gewaltenteilung.“
    Davon war nicht ansatzweise die Rede an diesem „Treffen“. Das ist die grosse Enttäuschung. Wieder wurde die Schuld den Einzelnen zugewiesen, die sich noch dazu gemäss Franziskus vom Satan haben verführen lassen. Böse gesagt, ist Satan der Missbrauch der Macht in der Kirche durch die Verantwortlichen…
    So sieht keine Erneuerung der Kirche aus. So wird weiter gemacht, wie bisher. So wird sich die Kirche nicht heilen von innen her. Der Aufbruch des Vaticanum II ist nicht fortgeführt worden, wertvolle Ansätze wurden von Anfang an gestoppt. Es ist wirklich fraglich, ob sich die Kirche, in der das Leitungspersonal so miserabel aufgestellt ist (danke JPII und Benedikt….!) je erneuern kann. Wie viel Leid der Menschen in der Kirche, der „kleinen“ und der „grossen“, ist noch nötig, damit die Kirche wieder die Güte Gottes lernt zu leben?

    • Erasmus
      27.02.2019, 17:52 Uhr.

      Danke für Ihren Hinweis auf den neuen Bischof von Hildesheim, Heiner Wilmer. Ich war sehr erfreut, als ich beim Recherchieren darauf stieß, dass dieser Eugen Drewermann aufgrund von dessen Analysen über Kleriker und „Strukturen des Bösen“ als von der Kirche verkannten Propheten unserer Zeit bezeichnet.

      Im gleichen Sinn wie Bischof Wilmer äußert sich Klaus Mertes SJ zur Papstrede im Deutschlandfunk. Er sieht Franziskus auf einer Linie mit Benedikt XVI. und Johannes Paul II.. Immer ist es die reine und unschuldige Kirche, die den Versuch des absoluten Bösen, von außen in die Kirche einzudringen, radikal bekämpfen muss. Von daher erklärt sich die aktuelle päpstliche Redeweise vom „Herausreißen“ und „Ausmerzen“.

      In den Augen von Mertes leitet sich aus dem falschen Denkansatz, den die Päpste favorisieren, eine unheilvolle Strategie ab, weil
      1. der Eindruck entsteht, dass das Böse von außen kommt und
      2. durch die Fokussierung auf Täter und luziferischen Hintermann die die Bischöfe betreffende Vertuschung in den Hintergrund tritt.

      Laut Mertes kommt das Problem aus dem Inneren der Kirche und hat mit systemischen, strukturellen und kulturellen Aspekten im Leben der Weltkirche zu tun. Die Schlüsselfragen, um die es geht sind:
      – Die katholischen Sexualmoral und ihr grundlegend problematisches Verhältnis zur Sexualität, insbesondere auch zur Homosexualität
      – Die Frage nach der männerbündischen Struktur des Klerus, in der die Inhabe der geistlichen Macht an Männlichkeit gebunden ist.

      • bernardo
        28.02.2019, 18:16 Uhr.

        Ich sehe einen Unterschied zwischen den Positionen Wilmers und denen von Mertes: Wilmer hat zwar gesagt, Machtmissbrauch liege in der DNA der Kirche, hat dies aber nicht weiter ausgeführt. Mertes hat aus den richtigen, kritischen Anmerkungen von Wilmer seine eigene Agenda entwickelt.

        Ich beziehe den Machtmissbrauch auch nicht so sehr auf die Sexualmoral oder das „Männerbündische“ in der Kirche, sondern auf eine möglicherweise falsche Ekklesiologie: Wie kann die Kirche rein und heilig sein, wenn in einem solchen Ausmaß kriminelle Handlungen begangen werden? Wie kann sie sich anmaßen, zu rein politischen Fragen Stellung zu beziehen – was ohnehin ein Ärgernis ist -, solange man den Eindruck hat, dass sie im Innern den Augiasställen gleicht? Wie kann sie Privilegien für sich reklamieren, wenn die Beseitigung von Grundübeln so langsam in Angriff genommen wird?

        • Erasmus
          01.03.2019, 11:43 Uhr.

          „Mertes hat aus den richtigen, kritischen Anmerkungen von Wilmer seine eigene Agenda entwickelt.“

          Mertes ist seit 2010 intensiv mit dem Thema ‚Sexualisierter Missbrauch in der katholischen Kirche‘ beschäftigt. Im Ksta-Interview vom 13.12.2018 äußert Wilmer, dass Mertes zu Unrecht für den von ihm öffentlich gemachten Missbrauchsskandal Prügel bezogen habe.

          Die Ekklesiologie von Mertes und Wilmer ist die gleiche. Die Vorstellung, dass die Kirche an sich sei rein und makellos und nur die einzelnen Gläubigen Sünder seien, ist falsch. „Wir werden den Glauben an die ‚heilige Kirche‘ in Zukunft nur noch dann redlich bekennen können, wenn wir mitbekennen: Diese Kirche ist auch eine sündige Kirche.“ (Wilmer)

          Das Hochstilisieren von Reinheit steht in direktem Zusammenhang mit der traditionellen katholischen Konnotierung von Sexualität und Unreinheit. Außer dem zeugungsoffenen ehelichen Akt gilt jegliche andere Form von Sexualität (Z.B. Masturbation) als widernatürlich, unkeusch und unrein.

          • Novalis
            03.03.2019, 1:18 Uhr.

            Die Reinheitsmetaphorik sollte man bleiben lassen. Auch ein pädophiler Priester ist nicht schmutzig oder unrein. Auch ein pädophiler, straffällig gewordener Priester hat das Recht, reintegriert zu werden in die Gesellschaft. Und ein solcher Priester darf auch mit guten Gründen darauf hoffen, dass Gott ihm vergeben wird, wenn er nur aufrichtig bereut. Und ich baue darauf, dass Gott Mittel und Möglichkeiten hat, die Opfer mit den Tätern zu versöhnen, ohne den freien Willen der ersteren zu missachten. Das heißt übrigens nicht, dass man straffällig gewordene Priester nicht angemessen nach weltlicher Gerichtsbarkeit bestrafen darf und soll. Im Gegenteil. Und nicht nur die. Kinder zu verprügeln sollte auch zur Suspendierung a divinis führen. Gewalt gegen Kinder mag vor 50 und 100 Jahren gesellschaftlich toleriert gewesen sein – sie war aber NIE moralisch gerechtfertigt und wird es auch nie sein können. Ebenso wie Sklaverei. Oder die Todesstrafe. Dass sich die Kirche für eine Rechtfertigung hergegeben hat, macht die Sache nicht besser.

    • Novalis
      04.03.2019, 22:03 Uhr.

      Bischof Wilmer ist ein echter Glücksgriff. Wer weiß, vielleicht wird nach Cardenal auch noch Drewermann rehabilitiert. Es gibt jedenfalls aus gut katholischer Perspektive keinen Grund beide zu verurteilen. Auch die bösartigen Unterstellungen gegen tote Theologen ersten Ranges wie H.U. von Balthasar sind ja irgendwann verstummt.

      • Ullrich Hopfener
        05.03.2019, 9:31 Uhr.

        @Novalis, (4.3.2019) ich stimme Ihnen vollumfänglich zu…
        fürchte aber, dass Franziskus -wegen der immer noch wütenden RESTAURATION- nicht mehr die Kraft hat..

        es ist ja auch der große Mystiker und Naturwissenschaftler Giordano Bruno rehabilitiert worden..

        AUSGERECHNET(!!die eher militanten Atheisten haben ihn vereinnahmt..

  • Silberdistel
    26.02.2019, 0:19 Uhr.

    Gefällt mir, wie feinfühlig Franziskus diesmal mit der speziellen Klientel von heuchlerischen Klerikern umgeht. Schließlich gab es angesichts der Missstände und Skandale bereits die denkwürdigsten Weihnachtsansprachen ever, welche mutmaßlich ausreichend Angepisste zurückgelassen hat. Die wissen auch so schon, das Franziskus den Klerus in weiten Teilen für einen Augiasstall hält, deren moralischer Überlegenheitsanspruch angesichts der Realitäten keinesfalls gerechtfertigt ist.

    • Eva
      27.02.2019, 11:03 Uhr.

      Wenn man das Gesicht von Papst Franziskus bei der Bußmesse gesehen hat, dann hatte ich den Eindruck, dass er langsam verzweifelt, weil der „Augiasstall“ schon soviel Mist enthält, dass er nicht mehr weiß, wo er anfangen soll.

      • Novalis
        04.03.2019, 22:22 Uhr.

        Ich hege keinen Zweifel, dass das, was Jesus wollte, und das, welchem er den Beistand zugesichert hat, dass die Pforten der Unterwelt es nicht überwältigen werden – die Sammlung des Volkes Gottes (ἐκκλησία [ekklesia]) – bis zum Jüngsten Tag bleiben. Ich glaube und vertraue darauf, dass Jesu Botschaft wahr ist und diese Wahrheit nie untergehen kann.
        Dass die soziale Größe Kirche in einem Strudel von Sexskandalen untergeht, hätte ich nicht gedacht; eher, dass sie den Kältetod stirbt, weil sie den Reaktionären (die im Grunde genommen ihre Haltung nur zur Kaschierung der eigenen Laster benutzen) in die Hände fällt. Aber recht besehen ist erseres die verdiente Strafe dafür,
        – dass man jahrhundertelang mit einer Sexualmoral, von der sich wenig bis nichts in der Bibel und im Munde Jesu findet (ich habe vergeblich Worte Jesu gegen Masturbation oder homosexuellen Anal- oder Oralverkehr gesucht), die einfachen Leute unterdrückte, während man selbst Orgien feierte,
        – sogar noch der ach so heilige JP2 Maciel deckte, aber pausenlos Kondome verurteilte, obwohl er nicht erklären konnte, was einem Naturprodukt wie Latex so unnatürlich sei oder warum Sex in der unfruchtbaren Zeit der Frau legitim ist, auch wenn der Zeugungsakt dort genausowenig wie bei Benutzung von Pille und Kondom beabsichtigt ist;
        – und Ratzinger einen Pfarrer Murphy, der 400 (!) gehörlose Buben missbrauchte, bewusst und aktenkundig im Dienst beließ. Gleichzeitig zwang er die deutsche Kirche, die Schwangerenkonfliktberatung zu verlassen und machte sich – um der Reinheit der Lehre willen – am Tod vieler ungeborener Kinder mitschuldig durch unterlassene Hilfeleistung. Was ist das für eine Lehrreinheit, wenn man gleichzeitig Kindesmissbrauch durch Kardinäle, Bischöfe und Priester vertuschte?

        • Silvia
          05.03.2019, 12:52 Uhr.

          Novalis
          04.03.2019, 22:22 Uhr.

          Die extreme Fixierung der katholischen Amtskirche und auch noch mancher Katholiken auf die Sexualität, bevorzugt auf die der Anderen, geht mir schon lange auf die Nerven.

          Mir erscheint diese Fixierung auf das Sexualverhalten anderer Menschen geradezu voyeuristisch zu sein.

          Auch Maria Magdalena musste lange als diesbezügliches Feindbild herhalten, an dem sich die anderen, „anständigen“ Frauen abarbeiten konnten.

          Als ich vor wenigen Jahren in einem Bibelkreis mit lauter Frauen darauf hingewiesen habe, dass Paul VI Maria Magdalena quasi rehabilitiert habe, wurde ich ausgelacht und bekam zu hören, dafür sei es zu spät. Mit anderen Worten, man wollte sich sein seit Jahrhunderten lieb gewonnenes Bild von der Sünderin als Kontrast zur eigenen Anständigkeit nicht zerstören lassen.

          Die anderen Frauen haben sich köstlich über meine diesbzgl „Aufklärungsversuche“ amüsiert.

          Der anwesende Priester ist mir keinesfalls beigesprungen.

    • Wanda
      02.03.2019, 17:29 Uhr.

      Silberdistel 26.02. 00:19
      – Ja und, was ändert das ? Über die Meinung des Papstes können diese „Angepissten“ doch nur müde lächeln. Da muss er sich schon was anderes einfallen lassen als immer wieder nur Mahnung, erhobener Finger und Schambekenntnisse. Harte Massnahmen sind erforderlich: Zugang der weltlichen Justiz und Ermittlungsbehörden zu diesem exklusiven Männerverein. Sonst lachen die sich in ihren Zirkeln doch nur einen Ast…
      – Schauen Sie sich die letzten 3 Karrikaturen zum Thema im SPIEGEL an. Ein noch so guter Kommentar wird das nie so treffend wiedergeben können…

    • Silvia
      03.03.2019, 16:37 Uhr.

      Novalis
      03.03.2019, 1:18 Uhr.

      Vor gut 40 Jahren war ich eine Weile als Sozialarbeiterin im Männergefängnis tätig und hatte da u.a. auch mit pädophilen Straftätern zu tun.

      Selbstverständlich muss auch ein pädophiler Mann/Priester wieder in die Gesellschaft integriert werden.

      Dazu bietet sich u.a. die CHEMISCHE Kastration an, diese wurde aber früher zumindest nur mit dem Einverständnis des Täters angewandt und setzt natürlich voraus, dass der betreffende Mann auch nach der Haftentlassung seine Medikamente weiter nimmt.

      Dass JEDER Mensch, auch ein Straftäter, die Barmherzigkeit und Vergebung Gottes erlangen kann, wenn er aufrichtig bereut, ist katholische Glaubenslehre und wird als solche von mir bejaht.

  • Manuela Ganzer
    26.02.2019, 11:10 Uhr.

    Ohne konkrete Maßnahmen,wo dem Papst auch wieder mögliche Täter bei der Maßnahmenfindung helfen könnten,hat solche Kindesmissbrauchgipfel wenig gebracht und wird auch weiter nichts zum Kindesschutz bringen.Klare Verhältnisse mit klarer Ordnung,wie nach Staatl. Strafrecht müssen in der röm.-kath. Kirche geschaffen werden,oder dem Staat die röm.-kath. Täter zum Strafverfahren überlassn werden.Auf mich wirkt die röm.-kath. Kirche nicht mehr glaubwürdig.Es ist kein Wunder,wenndie Bürger den Glauben verlieren.

  • Erika Kerstner
    27.02.2019, 9:18 Uhr.

    Papst Franziskus hat sieben von der Weltgesundheitsorganisation vorgeschlagene Strategien übernommen, um sexuellen Missbrauch zu bekämpfen. Erst in der vorletzten Strategie geraten ihm die Opfer überhaupt in den Blick.
    Im Übrigen beschreibt er Missbrauchsopfer mit den üblichen Klischees: Sie seien hasserfüllt und selbstzerstörerisch. Weil sie vom Missbrauch niemandem erzählen und sich keine Hilfe holen, entstehe bei den Opfern „Beklemmung“ (amarezza), die zu Verbitterung, sogar zum Selbstmord und gelegentlich zur Revanche führt, in der die Opfer selbst zu Tätern werden. Diese Beschreibung bringt noch allemal Betroffene zum Schweigen.

    • Erasmus
      01.03.2019, 13:48 Uhr.

      „Diese Beschreibung bringt noch allemal Betroffene zum Schweigen.“

      Ihr Kommentar hat mich veranlasst, die betreffende Stelle noch einmal zu lesen. Mir wurde deutlich, wie einseitig, oberflächlich und pseudo-sachlich sich der Papst äußert. Bei den Gründen des Schweigens der Opfer lässt der Papst aus, dass die Mitwelt oft schlichtweg nichts von dem wissen wollte, was die Geschändeten mitzuteilen gehabt hätten. Die ohnmächtigen Opfer wussten oder mussten die sekundär-traumatisierende Erfahrung machen, dass die Definitionsmacht des (angeblich) Geschehenen bei den Klerikern oder häufig solchen Laien lag, für die Geistliche quasi unantastbar waren. Die Opfer wurden dann als Lügner hingestellt, zu Mittätern gemacht (Beichtforderung!) oder der Verführung des Geistlichen bezichtigt.

      Der Satz: „Das einzige gesicherte Faktum ist, dass Millionen Kinder auf der Welt Opfer von Ausbeutung und sexuellem Missbrauch sind“, verwischt die besondere Schuld der Kirche und will das Faktum nicht zur Kenntnis nehmen, dass Missbrauch in der Kirche nicht zufällig und ausnahmsweise passiert ist, sondern strukturelle Gründe hat.

      Auch wenn die Rede des Papstes nicht die Opfer als Adressaten hatte, hätte sie so feinfühlig formuliert ein müssen, dass sich Opfer nicht erneut brüskiert fühlen müssen.

  • Wanda
    02.03.2019, 17:14 Uhr.

    Stimmungsbild aus dem Pressezentrum, als die renommierte mex. Journalistin Valentina Alrazaki (bekannt bei den Amtsvorgängern Franziskus‘) das Wort ergriff. Es sei klar, wo die Gesellschaft, wo die Journalisten ständen: auf Seiten der Opfer. Und sie fragte die anwesenden Bischöfe: „Tun Sie das wirklich auch ? Wenn nicht, haben Sie Grund sich zu fürchten, denn wir werden Ihre schlimmsten Feinde sein. Ich hoffe, Sie kehren nach Hause zurück und sehen nicht länger boshafte Wölfe in uns, sondern schliessen sich uns an, um gegen die wahren Wölfe zu kämpfen.“
    – Sekundenlange Stille im Pressezentrum, dann brach Applaus los. Das hatte es bei den vorangegangenen Reden nicht gegeben…
    Leider liest man hier im Blog nichts zu diesen Vorgängen um die lediglich als „Kinderschutzgipfel“ (er wurde ja nun wesentlich mehr als das) deklarierten Versammlungstage im Vatikan.
    Zu erwähnen sind noch die zahlreichen, überaus kritischen Stellungennahmen und Meinungen als Negativ-Echo in den überregionalen Medien, auch in den Öffentlich-Rechtlichen. Das kann man nicht mehr abtun oder übergehen…

  • Novalis
    05.03.2019, 10:55 Uhr.

    @Wanda:
    „Sie sollten, wenn man dem NT glauben darf, als Brüder unter Brüdern agieren, nicht einmal als Rabbi (Lehrer). Und der Begriff des Vaters (Papa/Papst) war ihm zufolge nur einem Einzigen vorbehalten.“
    Das ist sachlich völlig falsch. Jesus war kein Papst und hat sich auch nicht so nennen lassen (Petrus auch nicht, bis zum Jahr 150 gab es nach jetzigem Forschungsstand nicht einmal einen Bischof in Rom, sondern ein Gemeindeleitungskollegium); und „Vater“ hat er sich auch nicht nennen lassen!
    „Auch sollt ihr niemanden auf Erden euren Vater nennen; denn nur einer ist euer Vater, der im Himmel“ (Mt 23,9). Für gläubige Christen ist Jesus Gott in der Daseinsweise „Sohn“, nicht in der Daseinsweise „Vater“.

  • Micaela Riepe
    05.03.2019, 13:00 Uhr.

    „Das kirchliche Selbstverständnis, heilsame moralische Instanz für danach darbende säkulare Gesellschaften und mahnende Stimme für individuell bedürftige Gewissen zu sein, erweist sich als Selbsttäuschung, die weder mit den tatsächlichen Fragen verfugt ist, wie die brisante Energiequelle Sexualität auf humane Weise zu nutzen wäre, noch an das Niveau der Ansprüche für die benötigten Antworten heranreicht.“

    „Es betrifft nicht nur die Täter. Es trifft alle in der Kirche, insbesondere jene im Klerus, die etwas geahnt haben, aber dem nicht nachgingen, obwohl es sie abgestoßen hat. Es trifft bei Klerus wie Laien auch die objektiv Ahnungs- und Schuldlosen. Das ist hoffentlich immer noch die Mehrheit, aber hier hilft keine Majorität. Eine schwer erträgliche, aber eben nicht aberwitzige Stigmatisierung tritt für alle ein. Sie resultiert weder aus antiklerikalem Überschwang noch innerkirchlicher Panik, sondern aus der Schamlosigkeit, mit der die hohen moralischen Ansprüche bei Tätern und Vertuschern ignoriert wurden. Das bedrückt nun die Hierarchie der Kirche umso mehr, je höher ihr Repräsentationsgrad ist.“

    Wenn moralischer Anspruch schamlos wird
    Hans-Joachim Sander, Professor für Dogmatik in Salzburg
    in „Stimmen der Zeit“

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