Blick in den Abgrund
330.000 Opfer sexualisierter Gewalt im Kontext der katholischen Kirche allein in Frankreich seit 1950. Das ist das Ergebnis einer unabhängigen Untersuchung, die gestern in Paris veröffentlicht wurde. Erneut blickt die katholische Kirche in einem Land tief in den Abgrund menschlichen Fehlverhaltens und systemischen Versagens. Der Leiter der unabhängigen Kommission, Jean-Marc Sauvé, stellte bei der Vorstellung des Berichts fest, dass es zwar auch in anderen Institutionen Missbrauch gebe, doch die katholische Kirche sei nach Familien- und Freundeskreisen „das Milieu, wo sexuelle Gewalt am häufigsten vorkommt“. Kirchenvertreter in Frankreich sowie der Papst in Rom zeigten sich schockiert und beschämt über die Ergebnisse der Untersuchungen, die von rund 3.000 Tätern ausgehen, zwei Drittel davon Priester. Franziskus beklagte heute bei der Generalaudienz selbstkritisch das lange Wegschauen der Kirche.
Werden Konsequenzen gezogen?
2.500 Seiten umfasst der Bericht der unabhängigen Kommission, die 2018 von der Bischofskonferenz und den Orden in Frankreich mit der Untersuchung beauftragt worden war. Er basiert auf Archivrecherche bei Kirche, Justiz und Staatsanwaltschaft sowie auf Zeugenaussagen. Die Kommission bestand aus 21 Juristen, Medizinern, Historikern und Theologen. Das Ergebnis wurde nun der Bischofskonferenz und den Ordensoberen übergeben. Zum Vergleich: die MHG-Studie hatte 2018 für Deutschland mindestens 1.670 Beschuldigte, darunter mehrheitlich Priester, sowie 3.677 Betroffene sexueller Übergriffe benannt für den Zeitraum 1946 bis 2014. Doch wurde schon bei der Publikation betont, dass die Dunkelziffer weit höher liege.
Nachdem in einem weiteren Land deutlich wurde, wie massiv das Problem sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche ist, bleibt die entscheidende Frage, welche Konsequenzen werden gezogen. Der Vorsitzende der französischen Bischofskonferenz, Erzbischof Eric de Moulins-Beaufort, erklärte, er wolle mit Entschlossenheit handeln. Doch die Frage ist, ob das Handeln einzelner Bischofskonferenzen ausreicht. Einmal mehr ist die römische Zentrale gefordert, denn alle Studien zeigen, dass es neben dem persönlichen Versagen der Täter, der Vertuscher und der Mitwisser systemische Ursachen gibt, die dieses Leid möglich gemacht haben. Ob der weltweite synodale Weg, der am Wochenende im Vatikan eröffnet wird, hier eine adäquate Antwort ist, muss sich erst noch zeigen.
Führt die Bischofssynode zu Strukturveränderungen?
Im Vorbereitungsdokument zu dem Prozess heißt es: „Die gesamte Kirche ist aufgerufen, sich der Last einer Kultur bewusst zu werden, die von Klerikalismus gekennzeichnet ist und welche sie aus ihrer Geschichte geerbt hat, sowie derjenigen Formen der Ausübung von Autorität, aus welchen verschiedene Arten des Missbrauchs entspringen können (Missbrauch von Macht, ökonomische Missbräuche, geistlicher Missbrauch, sexueller Missbrauch).“ Wird hier versucht, den Missbrauch allein auf eine „Kulturfrage“ zu reduzieren, also die Art und Weise wie Amt und Verantwortung ausgeübt wird? Das wäre zu wenig. Es braucht auch strukturelle Veränderungen. Das Potential steckt in der weltweiten Synode. Ob es genutzt wird, hängt von den Handelnden ab. Auf Weltebene dauert der Prozess bis Oktober 2023. Danach ist der Papst am Zuge.
7 Kommentare
Da es in Frankreich keine Kirchensteuerzahler und entsprechend weniger heidnische Formalkatholiken gibt, die von diesen Kirchensteuern alimentiert werden, erwarte ich in Frankreich keine Instrumentalisierung dieser Mißbräuche, um die Kirche zu protestantisieren.
Ich zweifle aber nicht daran, daß dies in Deutschland nachgeholt wird.
Natürlich haben Sie Recht, Herr Erbacher: die römische Zentrale ist gefordert und zwar schon längst und glaubhaft, denn es ist ein Krebsgeschwür der gesamten Amtskirche. Franziskus sollte allmählich zu Taten schreiten und nicht immer nur lamentieren. Das wirklich einzig Positive, wenn man überhaupt davon sprechen kann: die Vertreter der röm.-kath. Kirche in Frankreich erkennen die Ergebnisse der unabhängigen Kommission ohne wenn und aber an, während ein Grossteil der deutschen Bischöfe und Kardinäle (die Namen sind jedem bekannt) schon viel zu lange rumeiern und den Schaden und Vertrauensverlust damit nur grösser werden lassen…
„Nachdem in einem weiteren Land deutlich wurde, wie massiv das Problem sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche ist, bleibt die entscheidende Frage, welche KONSEQUENZEN werden gezogen.“ (Erbacher)
Es ist das Verdienst von KARDINAL MARX, die Frage nach der Verantwortung ‚rückhaltlos‘ gestellt zu haben. „Ich trage doch als Bischof eine ‚institutionelle Verantwortung‘ für das Handeln der Kirche insgesamt, auch für ihre institutionellen Probleme und ihr Versagen in der Vergangenheit. Und habe ich nicht auch durch mein Verhalten negative Formen des Klerikalismus und die falsche Sorge um den Ruf der Institution Kirche mit befördert?“
Das innerkirchliche Buß-Prozedere wäre Sündenbekenntnis, Reue, Verzeihung und Neuanfang. Aber Kirche ist auch Teil der bundesrepublikanischen Gesellschaft und in deren Regelzusammenhang wäre das erwartbare Handeln der RÜCKTRITT, den Kardinal Marx konsequenterweise angeboten hat. Papst Franziskus hat allerdings entschieden, rücktrittswürdige bzw. -willige Bischöfe im Amt zu belassen. Vermutlich ist für ihn ein Verlust von episkopalen Spitzenkräften in größerem Umfang nicht hinnehmbar.
Umso wichtiger wäre eine UMGESTALTUNG des toxisch gewordenen klerikalistischen Systems. Nötig wäre die Einhegung von Macht, eine Neuausrichtung des Kleriker-Status und eine zeitgemäße Sexuallehre. Lotet man das Vorbereitungsdokument zum weltweiten synodalen Prozess im Hinblick auf Veränderungspotenziale aus, so findet man als Aufgabenstellung „zu überprüfen, wie in der Kirche die Verantwortung und die MACHT gelebt werden, wobei auch die Strukturen zu prüfen sind, mittels derer sie gestaltet werden. Dabei werden Vorurteile und unangemessene Praktiken, die nicht im Evangelium gründen, hervortreten, bei denen der Versuch einer Umwandlung vorzunehmen ist.“ Die Rede vom Versuch suggeriert eine zögerliche Herangehensweise, deren ZAHNLOSIGKEIT sich im letzten zusammenfassenden Paragrafen bestätigt: „Wir erinnern daran, dass es nicht Zweck dieser Synode … ist, Dokumente zu produzieren, sondern TRÄUME aufkeimen zu lassen, Prophetien und Visionen zu wecken, Hoffnungen erblühen zu lassen, Vertrauen zu wecken, Wunden zu verbinden, Beziehungen zu knüpfen, eine Morgenröte der Hoffnung aufleben zu lassen.“ Ob dieser schönen Worte könnte man fast vergessen, dass es ja eigentlich um einschneidende Konsequenzen nach einem verbrecherischen Sündenfall der – ach so heiligen – römisch-katholischen Kirche geht.
Hilfreich wären gesamtgesellschaftliche Vergleichszahlen, die andere institutionelle Milieus einbeziehen und zu kirchlichen Kontexten in Relation setzten; Basiszahlen sowieso; wieviele Priester, Mitarbeiter und Zöglinge es über diesen Zeitraum gegeben hat. Wieviele Mißbräuche aufs Ganze? Auch historische Tiefenabgleiche, die kaum möglich sein dürften. Neben Hell- und Dunkelfeldvermutungen auch das Schwarzfeld von Falschverdächtigungen, etwa Erpressungen und kriminellen Beschuldigungen, die in der älteren Statistik für das homosexuelle Milieu z.B., und nicht nur dort, etwa weithin einschlägig sind. Das fehlt in der journalistischen Berichterstattung überhaupt, derart auf das instrumentalisierte Phänomen einer moral panic hinauslaufend. Wie soll man sich da angesichts eines kirchen- und insonders traditionsfeindlichen Meganarrativs der Mainstreammedien, das es unzweifelbar und leider unhinterfragt gibt, als Nachrichtenkonsument überhaupt ein Bild machen können! An sich und absolut ist das ohnedies selbstverständlich horribel, erlaubt aber dennoch keine Schlußfolgerungen auf schnellschüssige „System“-Anklagen. Mit Wissenschaft hat das alles auch überhaupt noch nichts zu tun, weil die statistische Gesamteinbettung fehlt. Die katholische Kirche als internationale Organisation steht weltweit kaskadenhaft immer im Fokus und wird reduziert und reduziert sich selbst auf die Mißbrauchskatastrophe, von hintergründig nicht auslotbaren Kräften sogenannt „reformerischer“ Zeitgeistangleichung getrieben. Mißbrauch, und nicht nur den, gibt es leider wohl nicht nur in der katholischen Kirche – und was sonst noch. Dazu fällt mir allen whataboutism-Einwänden Tausenderlei ein. Zugegeben wäre es hier gemessen an dem Selbstanspruch am schlimmsten.
Zufälliger Gastleser:
– Sie dürfen beruhigt sein: wären andere Institutionen betroffen, die ihren Gläubigen oder Anhängern in ähnlicher Weise mit dem hoch erhobenem moralischen und ethischen Zeigefinger kommen, hätten sich die freien Medien schon mit Wonne darauf gestürzt. Bei der röm.-kath. Kirche kommt eben das enorm starke Element der Pädophilie noch dazu, die Scheinheiligkeit und eben der Zölibat. Dazu diese Untätigkeit und das Verschleppen. Aber das wissen Sie sicher. Relativieren „Andere machen bzw. machten es wahrscheinlich ja auch“, ist so ziemlich das Primitivste und Erschreckenste was man den Opfern noch zumuten kann…
Solche Auslassungen nennt man wohl Missbrauchsverharmlosung.
Auf den Punkt gebracht !
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