Papst: Chaos von Rio für die Weltkirche
Jetzt habe ich auch verstanden, warum es in diesen Tagen von Rio bisweilen ein wenig chaotisch zugeht. Das ist der neue Franziskus-Stil. Gesagt hat er das gestern beim Treffen mit den Jugendlichen Argentiniens: „Ich hoffe, dass es als Konsequenz dieses Weltjugendtags Durcheinander geben wird! Hier in Rio gibt es Durcheinander und ich hoffe, dass es auch in den Diözesen Durcheinander geben wird.“ Franziskus wiederholte seine Forderung, dass die Kirche auf die Straße gehen müsse. „Ich möchte, dass wir uns gegen alles zur Wehr setzen, was Mondanität ist, Unbeweglichkeit, was Bequemlichkeit ist, Klerikalismus, gegen alles, was uns in uns selbst verschließt“. Er bat die Bischöfe und Priester um Entschuldigung, wenn nach dem Weltjugendtag einige Konfusion entstehen wird. Es scheint, als wolle Franziskus die Kirche auf den Kopf stellen. Das ist zwar nicht neu; aber eine solch direkte Aufforderung zum „Durcheinander“ gab es bisher nicht. Ob er sich der Konsequenzen bewusst ist?
Das war der Blick nach innen; deutlich waren die Worte von Franziskus aber auch mit Blick auf die Gesellschaft. Die sei über eine Grenze hinausgeschossen mit ihrem Kult des Geldes. Und dann kam wieder der Kardinal Bergoglio durch, der vor drastischen Worten nicht zurückschreckt. Er sprach davon, dass Jugendliche und Alte zunehmend von der Gesellschaft ausgeschlossen seien. „Man könnte fast glauben, es gebe da eine Art versteckter Euthanasie, also damit meine ich die Tatsache, dass sich keiner um die Senioren kümmert. Aber es ist auch eine ‚kulturelle Euthanasie‘, denn man lässt alte Menschen nicht zu Wort kommen und man lässt sie nicht handeln.“ Dann kamen an die Jugendlichen gerichtet Worte, die beinahe als eine Aufforderung zum Protest verstanden werden können. Die Jugendlichen sollten „sich erheben, sich Geltung verschaffen“, sie sollten hinausgehen und für Werte kämpfen. Und die Alten sollten „ihren Mund aufmachen und uns die Weisheit der Völker lehren!“
Mit Blick auf sein Heimatland Argentinien sprach er davon, dass Jugendliche und Alte derzeit dazu verurteilt seien, von der Gesellschaft ausgeschlossen zu sein. „Lasst euch nicht ausschließen!“ Er bedauerte, dass er aufgrund der Sicherheitsauflagen nicht näher bei den Jugendlichen sein konnte und sprach dann den interessanten Satz: „Ich fühle es hin und wieder, was für eine brutale Sache es ist, eingesperrt zu sein.“ Spielt er da auf sein neues Leben im Vatikan an?
Was war denn das für eine Ansprache? Frei gehalten, kam sie wohl aus tiefstem Herzen von Papst Franziskus, ohne dass sie noch von einem vatikanischen Apparat geschliffen wurde. Zum Abschluss warnte er übrigens auch davor, den Glauben zu verwässern.
Am Freitagabend zeigte Papst Franziskus, was er unter der Verbindung von Glaube und Leben versteht. Den traditionellen Kreuzweg nutzte er, um seine Kritik an Politik und Gesellschaft anzubringen. Dabei schlug er auch selbstkritische Töne in Bezug auf die Kirche an: „Durch das Kreuz verbindet Jesus sich mit dem Schweigen der Opfer von Gewalt, die nicht mehr schreien können, vor allem mit den Unschuldigen und den Wehrlosen; durch das Kreuz verbindet Jesus sich mit den Familien in Schwierigkeiten, die den Verlust ihrer Kinder beweinen oder daran leiden, dass sie sie in den Fängen künstlicher Paradiese wie der Droge sehen; durch das Kreuz verbindet Jesus sich mit allen Menschen, die Hunger leiden in einer Welt, die täglich tonnenweise Lebensmittel wegwirft; durch das Kreuz verbindet Jesus sich mit allen, die aufgrund ihrer Religion, ihrer Vorstellungen oder einfach wegen ihrer Hautfarbe verfolgt werden; durch das Kreuz verbindet Jesus sich mit den vielen jungen Menschen, die ihr Vertrauen in die politischen Institutionen verloren haben, weil sie Egoismus und Korruption sehen, oder die ihren Glauben an die Kirche und sogar an Gott verloren haben wegen der Unlauterkeit von Christen und von Dienern des Evangeliums.“
Welche konkreten Konsequenzen zieht er für die Kirche daraus? Noch steht Papst Bergoglio am Anfang seines Pontifikats. Wenn er beginnt, seinen Worten Taten folgen zu lassen, könnte es unbequem werden. Das bedeutet dann eine Verhaltensänderung für die kirchlichen „Funktionäre“, aber nicht nur für die, sondern für jeden Einzelnen. Es bleibt spannend.
P.S. Papst Franziskus hat eigens für die Veranstaltung heute Abend 35 Cartoneros, Müllsammler, aus Argentinien nach Rio eingeladen. Sie durften auf der Hauptbühne an der Copacabana Platz nehmen. Als Erzbischof ist Kardinal Bergoglio oft am Abend durch die Innenstadt spaziert, um mit den Cartoneros zu sprechen und einen typisch argentinischen Mate-Tee zu trinken. Nach Information aus dem Vatikan leben allein in Buenos Aires rund 9.000 Menschen vom Müllsammeln.