Tag 1 der franziskanischen Ära

Heute war der Tag der Analysen und Pressekonferenzen. Überall in der Stadt gaben Kardinäle freundlich Auskunft über den neuen Papst – selbstverständlich nicht über das Geschehen in der Sistina. Einzig der Berliner Kardinal Rainer Maria Woelki ließ sich zu der Feststellung hinreisen, dass es sich nicht um eine „Spitz-auf-Knopf-Entscheidung“ gehandelt habe. Viele Kardinäle berichten aber, dass auch für sie das Ergebnis überraschend kam. Zwar war Kardinal Bergoglio im Vorkonklave positiv aufgefallen; aber auf der persönlichen Favoritenliste stand er nur bei wenigen zu Beginn des Konklaves ganz oben. Italienische Zeitungen wollen zwar wissen, dass Bergoglio bereits im ersten Wahlgang mehr Stimmen hatte als etwa der große Favorit Angelo Scola. Doch das gälte es zu beweisen.

Die Sonderausgabe der Vatikanzeitung L'Osservatore Romano wollten heute viele Pilger.

Franziskus hat auch heute wieder vielversprechende Zeichen gesetzt. Beim Besuch der Marienkirche Santa Maria Maggiore hat er nicht die große Limousine mit dem Stern und dem berühmten Kennzeichen SCV1 gewählt, sondern eine etwas bescheidenere Variante eines Wolfsburger Modells mit normalem SCV-Kennzeichen. Auf dem Rückweg in den Vatikan ist er in seiner Unterkunft vorbeigefahren, in der er während des Vorkonklaves wohnte, packte dort seine Sachen zusammen und bezahlte die Rechnung, wie jeder normale Gast bei seiner Abreise. Es wäre zu wünschen, dass diese Normalität sich auch auf andere Bereiche des päpstlichen Hofes ausbreiten würde.

Die ersten Zeichen lassen ja hoffen. Kardinal Woelki zeigte sich sehr beeindruckt von der Einfachheit und Bescheidenheit, mit der der neue Papst gestern Abend in den ersten Stunden seines Pontifikats aufgetreten sei. Er habe gleich äußere Zeichen des Papstamts zurückgewiesen. Es sei eine brüderliche Begegnung gewesen, der Papst als „Bruder unter Brüdern“. Interessant ist übrigens auch, dass Franziskus in seiner kurzen Ansprache gestern auf der Loggia nicht das Wort Papst aussprach. Von Bischof und Volk war die Rede, von der Kirche und Gott. Woelki erwartet, dass der neue Papst angesichts seiner Herkunft Fragen der sozialen Gerechtigkeit, der Armut und der Menschenrechte stärker in den Vordergrund rücken wird. Der Münchner Kardinal Reinhard Marx zeigte sich zuversichtlich, dass Franziskus eine Reform der Kurie anpacken wird. Er habe Erfahrung mit Verwaltung und auch unangenehmen Entscheidungen. Der Schweizer Kardinal Kurt Koch, im Vatikan bisher zuständig für die Ökumene, berichtete, Franziskus habe ihm bei der ersten Begegnung gestern erklärt, dass ihm die Ökumene „sehr am Herzen liege“. Das lässt hoffen für das Gespräch mit den anderen christlichen Kirchen.

Die Erwartungen an den neuen Papst sind hoch. Ob sie zu hoch sind oder wie schon bei Benedikt XVI. vielleicht zu blauäugig, wird man erst in einigen Jahren sehen. Kritisch wird man sich sicher mit seiner Geschichte auseinandersetzen müssen. Hier kamen heute sehr widersprüchliche Stimmen auf über sein Verhalten als Jesuitenoberer in Argentinien während der dortigen Militärdiktatur. Er wird sich diesen Fragen stellen müssen. Auch wird sich zeigen müssen, ob er wirklich eine solch „moderne Vision“ der Kirche hat, wie sein Biograf Sergio Rubin in TV-Interviews erzählte. Es wird jetzt zunächst einmal die Zeit sein, hinzuhören und dann ein Urteil zu fällen. Seine erste Predigt heute war kurz. Bei der Messe mit den Kardinälen in der Sixtinischen Kapelle sprach er rund sechs Minuten. Ganz franziskanisch forderte er eine geistliche Erneuerung der Kirche; sonst verkomme sie zu einer nur „barmherzigen NGO“. Gehen, bauen und bezeugen waren die zentralen Stichworte in seiner Predigt. Dabei rückte er das Kreuz Christi ins Zentrum jedes christlichen Handelns. „Wenn wir ohne das Kreuz voranschreiten, aufbauen und bekennen, dann sind wir keine Jünger des Herrn.“ Richtet er den Fokus weg von einer triumphalistischen Kirche, vom triumphierenden Christus hin zu einer mitleidenden Kirche, dem leidenden Christus? Stehen wir hier vor einem Paradigmenwechsel? Sechs Minuten Predigt sind hier zu wenig; aber in den nächsten Tagen und Wochen werden sich mit der Messe zum Pontifikatsbeginn und dann vor allem den Kar- und Ostertagen viele Gelegenheiten bieten, diese Gedanken auszubauen. Dann wird man sicher klarer sehen, über den neuen Kurs. Dann wird sich vielleicht auch schon zeigen, ob der „Kardinal der Armen“ auch zum „Papst der Armen“ wird. Alles ist möglich, lautet derzeit die einhellige Meinung hier in Rom.

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Jürgen Erbacher

Seit Juli 2018 leite ich die ZDF-Redaktion "Kirche und Leben katholisch", für die ich seit 2005 über die Themen Papst, Vatikan, Theologie und katholische Kirche berichte. Dafür pendle ich regelmäßig zwischen Mainz und Rom - meiner zweiten Heimat. Dort habe ich vor meiner ZDF-Zeit mehrere Jahre gelebt und für Radio Vatikan gearbeitet. Studiert habe ich Politikwissenschaft und Katholische Theologie in Freiburg i.Br. und Rom.