Rückblick: Papst in den USA – Tag 3 – US-Kongress

24.9.2015: Das Etikett „historisch“ dürfte an dieser Stelle wohl angebracht sein: Erstmals hat ein Papst vor beiden Häusern des US-Kongresses gesprochen. Franziskus nutzte dabei am Vormittag die Chance, um seine Vision einer Gesellschaft und Weltordnung „in einem neuen Geist der Brüderlichkeit und Solidarität“ zu entfalten. Dabei fiel auf, dass Franziskus bis auf wenige Ausnahmen auf seine sonst üblichen scharfen und plakativen Formulierungen verzichtete und die Argumente seiner Kritiker wohl studiert hat, wie er das im Juli beim Rückflug aus Lateinamerika auch ankündigte. Die Themenpalette der Kongressrede ist umfangreich: vom Vorrang der Politik gegenüber der Wirtschaft, dem Umgang mit Fundamentalismus über Fragen des Umweltschutzes und der weltweiten Konflikte inklusive der Flüchtlingsfrage bis hin zur Forderung der Abschaffung der Todesstrafe und dem Umgang mit den Ureinwohnern. Trotz des Versuchs der Ausgewogenheit, wird die Rede Kritiker auf den Plan rufen, neue und alte – vor allem bei denen, die sich einen stärkeren Akzent auf kirchliche Moralfragen gewünscht hätten.

Papst Franziskus bei seiner Rede vor dem US-Kongress. (Quelle: dpa)

Papst will Brücken bauen

Sie war mit Spannung erwartet worden, die Rede vom Papst vor beiden Häusern des US-Kongresses. Und das nicht nur, weil Franziskus das erste katholische Kirchenoberhaupt ist, das dort sprach, sondern auch, weil Franziskus mit vielen seiner Positionen bei Mitgliedern des Kongresses auf Skepsis stößt – etwa seine scharfe Kapitalismuskritik oder seine Haltung zum Klimawandel. Vor allem konservative Katholiken, auch unter den Politikern, irritiert er, weil er die traditionellen katholischen Moralthemen nicht so in den Vordergrund stellt wie seine Vorgänger.

Franziskus hatte sich vier Amerikaner ausgewählt, über die er seine zentralen Botschaften vermitteln wollte: Abraham Lincoln, Martin Luther King, Dorothy Day und Thomas Merton. Er packte gleich zu Beginn seiner gut 50-minütigen Rede die Amerikaner bei ihrem eigenen Anspruch: Freiheit. „Eine Zukunft der Freiheit aufzubauen verlangt eine Liebe zum Gemeinwohl und eine Zusammenarbeit im Geist der Subsidiarität und der Solidarität.“ Später, im Zusammenhang mit seiner Würdigung der Annäherung zwischen den USA und Kuba sagte er: „Es ist meine Pflicht, Brücken zu bauen und allen Menschen zu helfen, auf jede mögliche Weise dasselbe zu tun.“ Diesen Anspruch durchzog wie ein roter Faden die Rede. Etwa als er zur Aufmerksamkeit gegenüber jeglichen Form von Fundamentalismus – gleich, ob im Namen einer Religion, einer Ideologie oder eines Wirtschaftssystems – aufrief und zugleich vor einem „grob vereinfachenden Reduktionismus“ warnte, „der die Wirklichkeit in Gute und Böse oder Gerechte und Sünder unterteilt“. Jeglicher Form von Polarisierung müsse entgegengetreten werden. „Wir wissen, dass wir in dem Bestreben, uns von dem äußeren Feind zu befreien, in die Versuchung geraten können, den inneren Feind zu nähren. Den Hass von Tyrannen und Mördern nachzuahmen ist der beste Weg, um ihren Platz einzunehmen.“

Pragmatismus kann angebracht sein

Franziskus betonte, dass es „Mut und Intelligenz“ brauche, „die vielen aktuellen geopolitischen und wirtschaftlichen Krisen zu lösen“. Dazu müssten „Ressourcen und Talente“ vereint werden. Immer wieder war, wie schon gestern in seiner Rede an die US-Bischöfe, der dringliche Appell herauszuhören, über unterschiedliche Positionen hinweg, zu gemeinsamen Lösungen zu kommen. Dabei zeigte sich Franziskus realistisch. Im Kontext der USA-Kuba-Annäherung fordert er „Mut und Kühnheit, was nicht mit Verantwortungslosigkeit zu verwechseln ist“. „Ein guter politischer Leader ist, wer im Gedanken an die Interessen aller die Gunst der Stunde zu nutzen weiß, in einem Geist der Offenheit und des Pragmatismus. Ein guter politischer Leader entscheidet sich immer dafür, Prozesse in Gang zu setzen, anstatt Räume zu besitzen.“ Es dürfte nicht zu verwegen sein, diese Aussagen auch auf „spirituelle Leader“, sprich auch den Papst zu übertragen. Interessant ist aber, dass ein Papst anerkennt, dass im politischen Geschäft auch unter bestimmten Bedingungen Pragmatismus angesagt ist. Diese Einsicht wurde in der Vergangenheit nicht immer von katholischen Hierarchen so vertreten.

Bei seinen Aussagen zur Wirtschaft wiederholt Franziskus seine bekannte Kritik nicht. Vielmehr nähert er sich über die Menschenwürde dem Thema. „Wenn die Politik wirklich im Dienst des Menschen stehen soll, folgt daraus, dass sie nicht Sklave von Wirtschaft und Finanzwesen sein kann.“ Später würdigt er noch die Unternehmertätigkeit als eine „edle Berufung“. Er nutzt dazu ein Zitat aus seiner Enzyklika Laudato si. Das macht er auch bei der Frage  des Umweltschutzes. Das heikle Wort „Klimawandel“ nimmt er nicht in den Mund. Er spricht von den „durch menschliches Handeln verursachten Umweltschädigungen“, die es zu vermeiden gilt; von einer „Kultur der Achtsamkeit“ und fordert dazu auf, „die Technik in den Dienst einer anderen Art des Fortschritts zu stellen, der gesünder, menschlicher, sozialer und ganzheitlicher ist“. Franziskus zitiert seine jüngste Enzyklika und zeigt damit, dass er zu seinem Wort steht. Zugleich versucht er über die Zitation der „weichen“ Stellen Brücken zu seinen Kritikern zu schlagen.

Verurteilung des Waffenhandels

Das zeigt sich auch an der Passage über die Armut, wo er zunächst anerkennt, dass in den letzten Jahren viel getan worden sei, „um Menschen aus der extremen Armut herauszuziehen“. Zugleich erinnert er aber auch an die, „die in einer Armutsspirale gefangen sind“. Solche für Franziskus üblichen sehr plakativen Formulierungen sind rar in der Kongressrede. Das zeigt, mit welchem Bedacht er spricht. Eine der wenigen Ausnahmen: seine scharfe Verurteilung des Waffenhandels. Hier spricht er von „Geld, das von Blut – oft unschuldigem Blut – trieft.“

Franziskus forderte die weltweite Abschaffung der Todesstrafe und stellte sich damit hinter eine Forderung der US-Bischöfe. Er sprach von der Flüchtlingskrise, „die ein seit dem Zweiten Weltkrieg unerreichtes Ausmaß angenommen hat“. Erneut erinnerte er daran, dass er selbst ein Sohn von Einwanderern sei und wisse, „dass viele von Ihnen ebenfalls von Einwanderern abstammen“. Zwei Punkte verbindet Franziskus damit. Zum einen ruft er dazu auf, die Flüchtlinge „als Personen zu sehen“ und jede Versuchung zu vermeiden, „alles, was stört, auszuschließen“. Zum anderen nutzte er die Gelegenheit, um den Ureinwohnern seine „größte Hochachtung und Wertschätzung“ zu versichern. Zugleich erinnerte er an den problematischen Umgang der ersten Einwanderer mit den Ureinwohnern. „Tragischerweise sind die Rechte derer, die lange vor uns hier waren, nicht immer respektiert worden. […] Diese ersten Kontakte waren oft turbulent und gewaltsam, doch es ist schwierig, die Vergangenheit mit den Kriterien der Gegenwart zu beurteilen.“ Diese Haltung des Papstes dürfte durchaus für Diskussionen sorgen.

Lebensschutz, aber …

Zwei Themen streift der Papst nur kurz: den Schutz des Menschlichen Lebens, das „in jedem Stadium seiner Entwicklung zu schützen und zu verteidigen“ sei, und die Familie. Das Wort Abtreibung fällt nicht ausdrücklich. Ebenso wenig entfaltet Franziskus das traditionelle katholische Eheverständnis und er weist politische Konzepte, die diesem entgegenstehen, nicht eigens zurück. Das wird besonders die konservativen Katholiken in den USA enttäuschen. Sie erwarten vom Papst, dass er hier klar Position bezieht. Die wenigen Sätze in der langen Rede werden ihnen nicht ausreichen und ihre Kritik am Kirchenoberhaupt verstärken.

Freuen werden sich die Millionen „normalen Bürger“. Papst Franziskus nahm sich die Kritik eines Journalisten auf der Rückreise von Paraguay nach Rom im Juli zu Herzen. Er hatte ihn gefragt, warum er nie über die Mittelschicht spreche. Heute würdigte er gerade die, „die täglich darum bemüht sind, eine ehrenwerte Arbeit zu verrichten, das tägliche Brot nach Hause zu bringen, etwas Geld zu sparen und Schritt für Schritt ein besseres Leben für ihre Familien aufzubauen. Sie unterstützten „im Stillen das Leben der Gesellschaft“. Nicht eigens geht Franziskus auf das Thema Diskriminierung ein, das in den letzten Monaten in den USA wieder intensiv diskutiert wurde. Allerdings stellt er klar: „Wir, die Menschen dieses Kontinents, haben keine Angst vor Fremden, denn die meisten von uns sind einst selber Fremde gewesen.“ Seine Warnung vor Polarisierung kann auch in diesem Kontext gesehen werden.

Eine lange Rede mit vielen Aspekten. Sie wird sicherlich für Diskussionen sorgen, nicht nur in den USA. Franziskus hat deutlich gemacht, dass er ein Dialogpartner für alle sein möchte und dass er  sich auf die Argumente seiner Kritiker einlassen möchte. Er möchte Pontifex sein, Brückenbauer zwischen Menschen unabhängig von Herkunft, Rasse und Religion. Die Reaktionen im Kongress waren freundlich positiv. Mehrfach wurde Franziskus durch Applaus und Standing Ovations unterbrochen. Die Zustimmung fiel dabei unterschiedlich aus. Beim Lebensschutz und der Verteidigung der Familie waren sie laut und kräftig, bei der Forderung der weltweiten Abschaffung der Todesstrafe eher verhalten. Am Ende ließ Franziskus den Zuhörern wenig Zeit für den Applaus. Er nahm sein Manuskript und verschwand nach gut 45 Sekunden in einen Nebenraum. Der Applaus zur Begrüßung war länger gewesen. Im Pressezentrum hingegen gab es zu Beginn Gelächter, als Franziskus im Saal mit den Worten begrüßt wurde: „Mr. Speaker, the Pope of the Holy See!“

P.S. Nach der Rede fuhr Franziskus unmittelbar in ein Zentrum für Obdachlose in Washington.

Autorenbild

Jürgen Erbacher

Seit Juli 2018 leite ich die ZDF-Redaktion "Kirche und Leben katholisch", für die ich seit 2005 über die Themen Papst, Vatikan, Theologie und katholische Kirche berichte. Dafür pendle ich regelmäßig zwischen Mainz und Rom - meiner zweiten Heimat. Dort habe ich vor meiner ZDF-Zeit mehrere Jahre gelebt und für Radio Vatikan gearbeitet. Studiert habe ich Politikwissenschaft und Katholische Theologie in Freiburg i.Br. und Rom.